Überwinden durch Vertrautes - demenzjournal.com

Das Tagebuch (47)

Überwinden durch Vertrautes

«Dieses Eingestehen der Schwäche, des Versagens, der Ohnmacht, ist befreiend. Durchgefallen. OK, was nun? Wie soll es weitergehen? Ich weiss keinen Ausweg mehr.» Bild Ursula Kehrli

Die Ressourcen, aus denen ich Freude, Kraft und Lebensenergie geschöpft habe, sind mir genommen worden! Ab und zu ein Befeuchten des trockenen Ackers, das ist alles. Herr, nun klage ich wirklich. Nun schreie ich Dir diese, meine ganze Not, laut ins Ohr. Und schreibe alles nieder.

9. Mai 2011 – Muttertag

Um sechs Uhr morgens hat mich die aufgehende Sonne im Innersten glücklich berührt. Ja, ich habe heute diesen ganz seltenen Moment erwischt, wo man zwischen den Häusern ein kurzes Stück Wald erspähen kann, und heute war es so weit, ausgerechnet heute, am Muttertag.

Erst ein grell orangefarbener Himmel, der einzelne Wolken erglühen lässt, dann auf einmal dieses erste gleissende Pünktlein Licht zwischen den Tannenspitzen, schnell wachsend, bis ich mich geblendet abwenden muss.

Mein Sonnenaufgang! Wohlig in meinem Innersten erlabt, ein Geheimnis bergend, schlüpfe ich wieder unter die Decke.

Wieder einmal einen Sonnenaufgang erleben zu dürfen – und das Zuhause! Die Umarmung Gottes, sie trägt mich durch die Traurigkeit hindurch.

Gestern Abend zog sich Paul die Schuhe an und wollte «nach Hause». Wir hatten kaum begonnen gemeinsam den Film von Miss Marple anzusehen, da wurde er unruhig, suchte dies und jenes, er wollte weg. Wohin willst du? Nach Hause.

Schau doch, hier sind die Möbel, die Du gemacht hast, dein Bett, du bist zuhause. Nach einer Weile beruhigt er sich, zieht die Schuhe wieder aus und setzt sich aufs Sofa, schaut dem Film zu, wahrscheinlich kann er nichts verstehen. Aber ich möchte den nun mal sehen.

Ein Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Sonntag, Paul hat seine Medikamente eingeordnet. Auch etwas, das er tadellos macht. Zuverlässig notiert er fehlende Medikamente auf einer Liste. 

Nur Neues klappt nicht: Die Schuheinlagen sollten in die Hausschuhe gewechselt werden. Ich lege sie ihm bereit – nein, er schiebt sie wieder in die Strassenschuhe zurück. Vielleicht will er auch nicht. Wenn ich es für ihn machen möchte, wird er aggressiv, wehrt ab. Was tun?

So habe ich mir meine letzte Wegstrecke nicht vorgestellt. An der Seite eines Mannes, der mich ständig herausfordert. An ihm habe ich keinen Gefährten mehr, keine Stütze, empfange weder Trost noch Zuspruch, Liebe schon gar nicht.

Ich werde ganz einfach gebraucht und verbraucht. Genervt. Ausgelaugt. Ist das ein lebenswertes Leben? Man spricht von Lebensqualität. Wo bleibt meine?

Ich wünschte mir, auch so gehätschelt zu werden. Mit Maltherapien, Gruppengesprächen, zusammen Basteln. Viele Drögeler und phsychisch Angeschlagene, ja sogar Kriminelle, geniessen mehr Zuwendung und Lebensqualität. Man kümmert sich um sie.

Es gibt sogar ein Nottelefon für überforderte Mütter. Ich habe noch nie von einem Nottelefon für überforderte alte Menschen gehört, die plötzlich einen 24/7-Pflegejob machen müssen. Ich muss mich selbst organisieren, kämpfen, um ja nicht unter der Last einzuknicken.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich bezahle die Leute fürs Hüten, und immer danke, danke sagen, wie früher das Negerlein in der Sonntagsschule, das den Kopf senkte beim Einwurf einer Münze. Ich fühle mich als Bettlerin um eine milde Gabe.

Ausnahme: der Markus, der sich anerbot Paul am Mittwoch zwei Stunden zu hüten, damit ich den ganzen Tag nutzen kann. Oh, welch ein Trostpflaster, ich will das auch sehr anerkennen. Und er nimmt kein Geld, tut es freiwillig.

Da kriege ich wieder den Wunsch, ihm mit einem Geschenk zu danken. Was macht ihm Freude? Wie bei den Rotkreuz-Fahrern – ich fühle mich trotz Bezahlung immer in ihrer Schuld.

Wie weiter? … Hallo, Ursula, wie geht es dir wirklich? Danke, ich bin zufrieden, ist jeweils meine Antwort. Erstens wollen sich die Leute keine Probleme anhören, zweitens rede ich mir damit selbst Mut zu.

Wenn meine Ohren hören, es geht schon gut, glaubt es schliesslich auch mein Verstand. Mein Herz bekommt Hoffnungstropfen, und schliesslich geht es mir dann besser. Danke, es geht. Bin zufrieden. Etwas anderes bleibt mir ja nicht.

Was möchtest du, dass ich für dich tu? Das frägst Du mich, mein Herr. Soll ich mir wünschen: Entlaste mich? – dann landet Paul im Heim. Ist keine Lösung. Das will ich nicht. So bitte ich: Herr, sei Du meine Stärke und mein Loblied, das ist meine Rettung, Du bist meine Rettung. Ich vertraue fest auf dich, auf deine Hilfe, du überforderst die deinen nicht.

Kurz vor elf Uhr ziehe ich mich um, wir sind bei Andy und Fränzi zum Mittagessen eingeladen. Wie ich mich freue, meinen Sohn zu sehen! Das tut so gut: Normal plaudern, die Gedanken laufen lassen ohne vorher genau überlegen zu müssen, ob ich verstanden werde.

Dementisch sprechen ist sehr anstrengend. Jede Aussage muss erst gefiltert werden, ob wichtig oder nicht, dann alle Füllwörter auslassen, wenig Worte. Und nur dann sprechen, wenn gerade nötig und angebracht. Nicht über zukünftige Dinge reden. Von Vergangenem schon gar nicht, man quält die Betroffenen mit dem Ausspruch «Weisst du noch?»

Paul ist durcheinander, er nimmt die Medikamente für den ganzen Tag in die Tasche. Lässt sich nicht erklären, dass er nur die für mittags brauche. Wird wütend, geht zur Garage, wartet dort ungeduldig.

Ob die zunehmende Verwirrtheit und Aggressivität eine Nebenwirkung des neuen Medikaments ist? Ich bin ziemlich verunsichert, die Umstellung vom Tegretol aufs Neue ist mir nicht ganz geheuer.

Simon grilliert Spiesschen. Mhm, mit Pouletfleisch, Rindfleischplätzchen zartgehauen und dann schön zusammengelegt wie eine Handorgel, dazwischen Peperoni und Gurkenscheibchen. Wunderbar gewürzt, tipp topp, auch die Garzeit. Dazu Salate und meine Lieblingskartoffeln. Schnitze an Rosmarin. Alles mit viel Liebe zubereitet.

Simon will mir sein Cabrio vorführen. Bei diesen Temperaturen ein Hochgenuss. Natürlich fährt er übers Limit, bei einer Kontrolle wäre er seinen frisch erworbenen Permit losgeworden. Ein Reh springt über die Strasse, zum Glück weit genug von uns entfernt.

Ich mahne ihn zur Dankbarkeit, täglich, wenn er sein Auto wieder in der Garage abstellt.

Es ist nicht immer in unserer Verantwortung, was geschieht. Und es ist immer Gnade, wenn wir unbeschadet zu Hause angelangen.

Paul ist recht zufrieden, erst um halb vier drängt er zum Aufbruch. Zuhause stelle ich das Pflanzenbäumchen in den Brunnen, es freut mich so sehr, dass sie mich damit verwöhnt haben. Umsonst suche ich nach dem Namen der Pflanze.

Paul schliesst den Schlauch an, um den Garten zu wässern. In letzter Zeit artet alles in grosse Aufregung aus. Es wird natürlich wieder eine Feuerwehrdemo, ich fliehe in mein Gartenhaus.

11. Mai 2011 – Ein freier Tag

Start vor neun Uhr. Gewöhne mich langsam daran, alles allein zu unternehmen: Wieder hoch auf den Gurten, Vertrautes hilft überwinden. Mittelstation, Aussicht geniessen, Erinnerungen an die Kindheit im Winter, als wir über diese lange Treppe hinunterschlittelten.

Dann auf der Brücke: Harte Schneebälle aufs Dach der Bahn poltern lassen, wohl wissend, es ist nicht gut, dennoch taten wir es und lachten hämisch – uns erwischt man nicht! Bis das Bähnchen hielt waren wir längst über alle Berge. Aber dann das schlechte Gewissen, das war der Spass doch nicht wert …

Mittagessen im Selbstbedienungsrestaurant, allein, muss mich daran gewöhnen. Das Essen schmeckt mir heute nicht. Kann die Trauer nicht loswerden.

Bevor Paul wegging, ärgerte ich mich über ihn: Er lässt sich nicht helfen. Er sollte doch die Einlagen tragen, um die Füsse zu entlasten. Nahm sie wohl wieder heraus, später finde ich sie wohl neben seinem Bett. Ist auch viel zu warm angezogen, zog wieder die Hosen mit den Flecken an, musste ihn so ziehen lassen, konnte nichts machen, er lässt sich nichts sagen. Hilflos, verzweifelt schaute ich ihm nach.

Ich bin den Tränen nah. 

Dann wieder die Wut über mich, wo sind die Barmherzigkeit, das Mitgefühl, die Freundlichkeit geblieben? So geht es nicht weiter.

Mit mir stimmt etwas nicht mehr. Ich habe kein Gefühl mehr, keinen Funken von Liebe, Wärme, Freude, nur noch nackte Verzweiflung und eine grosse Hilflosigkeit.

13. Mai 2011 – Warum es nicht klappt

Obwohl ich wie zerschlagen erwachte, vertraute ich darauf, dass meine Kräfte schon noch geweckt würden, wie üblich durch positives Denken. Genauer gesagt, ich bete um Kraft, Hilfe, Weisheit, vor allem um Liebe.

Frühstücken, Paul ist recht lieb, es läuft heute – juhui! – wie am Schnürchen. Nebenbei räume ich die Küche auf, Frau B. kommt nachmittags putzen. Die Diskussion über die eine Schmerztablette mehr im Kästchen kann ich mit Geduld erklären – juhui! – er begreift es nach dem dritten Anlauf und gibt sich zufrieden. Aufatmen.

Dann aber: Paul braucht ein neues Pflaster für seine geschwollene Kniekehle. «Nein, brauch ich nicht».  Dann, nach einer Weile: «Ich brauche hier auch zwei», er deutet aufs andere Knie. Versuche zu erklären. Investiere meine ganze Geduld, suche Argumente ihn dazu zu bewegen, das eine Pflaster anzunehmen.

Er setzt sich aufs Sofa, schiebt sich das Hosenbein hoch. «So geht es nicht. Solltest die Hose runterlassen.» Er steht auf. Ich warte. «Nein, ich gehe… ziehe die an…», er deutet mit dem Finger, er will die Shorts anziehen. «Ist nicht nötig, komm, das geht gut so, nur die Hose runterlassen».

«Das mach‘ ich nicht». Aha, er schämt sich vor mir, seiner eigenen Frau, ich bin wieder mal eine Fremde. Wieder endloses Argumentieren – natürlich mache ich sicher wieder alles verkehrt, sage bestimmt etwas, das ihn aufregt.

Nun denke ich an all die guten Ratschläge, die Trickkiste, die Regeln im Umgang mit Demenzkranken. 

Bleiben sie ruhig. Geben sie ihm Recht. Nicht argumentieren. Lassen sie ihn machen. Haben sie Geduld. Lassen sie ihm Zeit. Zeigen sie keinen Ärger, und, und, und …

Willst du mir zuhören, Netbuckli? Du verstehst mich wenigstens. (Frau Kehrli spricht mit ihrem Laptop …)

Genau all diese Fähigkeiten, die es bräuchte, um einen dementen Menschen zu führen, genau diese habe ich nicht. Deshalb hätte ich auch niemals einen Pflegeberuf gewählt. Nicht im Traum wäre es mir eingefallen, mich mit Kranken zu beschäftigen, wissend, dass mir genau diese Gaben fehlen.

Man redet so viel von Überforderungen im Beruf. Burnout, Mobbing, Kinder. Kinder, ihr seid noch jung, steht mitten im Leben! Ich hingegen bin eine Rentnerin, eine alte Frau. Und soll nun in diesem, meinem Alter, mit reduzierten Kräften und schon etwas abgenutzten geistigen Fähigkeiten diesen neuen, anspruchsvollen Beruf ausüben, der mir überhaupt nicht liegt? Ganz ohne Ferien?

Herr, was mutest du mir zu? Und das alles ohne ein Wort des Dankes, der Anerkennung, ohne Ermutigung von Paul? Und das alles, indem mein Freiraum, all das was mich bis heute erquickt und gestärkt hat, eingeschränkt wird?

Die Ressourcen, aus denen ich Freude, Kraft und Lebensenergie geschöpft habe, sind mir genommen worden! Ab und zu ein Befeuchten des trockenen Ackers, das ist alles. Herr, nun klage ich wirklich. Nun schreie ich Dir diese, meine ganze Not, laut ins Ohr. Hier übers Netbuckli.

Gerade vorhin bin ich aus einer solchen Situation weggelaufen, geflüchtet in mein Gartenhäuschen.

Ich hielt Pauls Nähe nicht mehr aus. Seine Argumente, seine Widerreden, sein Dreinreden, das stete Besserwissen und Herumkommandieren.

Ich lief von ihm davon: Blas mir in die Schuhe. Aber ich trage ja Sandalen, es nützt also nichts.

Ich denke an die Klagelieder des Jeremias. Aber der hatte ein viel schwereres Los zu tragen. Ich darf mich überhaupt nicht vergleichen, all die andern Partner von Demenzkranken sind ja so viel geduldiger, liebevoller, ja, alle anderen können es, nur ich nicht.

Ha, ich versuche das alles von mir zu schieben. Kann dazu stehen, eine Versagerin zu sein. Jedenfalls in dieser Aufgabe. OK, damit muss ich leben. Ich hab’s nicht geschafft, auch damals nicht, mit meinen Eltern. Auch da kam ich sehr schnell an meine Schmerzgrenze.

Versagt. Durchgefallen. Nicht einmal mehr eine Genügende im Zeugnis. Einfach durchgefallen. Aber ich kann es ganz entspannt zugeben und aussprechen. Ich klappe nicht zusammen deswegen, ich brauche keinen Hilferuf via meinen Körper.

Ich spreche für dich, meine arme, eingestauchte Seele, ich gebe es offen zu. Ich sehe dich weit hinter mir, du kannst mir nicht mehr folgen. Aber ich sehe dich aufgeregt winken, du rufst mir zu: Warte auf mich! Ja, das tue ich, just in diesem Augenblick, ich halte ein. Komm, wir schreien gemeinsam. Hilfe, Herr, höre, erbarme dich, erbarme dich vor allem Paul, seine Leiden sind noch viel schwerer als die meinen.

Ich sehe Paul, wie er in tiefem Wasser langsam vor meinen Augen versinkt. Ich kann ihm nicht helfen, er sinkt und sinkt. Seine Worte erreichen mich nicht mehr, und die meinen dringen nicht mehr zu ihm hinab. Ab und zu erhasche ich noch einen Blick von ihm, ein leerer Blick – auch seine Augen sprechen nicht mehr.

Er erkennt mich nicht mehr. Er ist zu tief versunken, das tut so weh. Ich bin ein irgendjemand für ihn, manchmal sogar ein er. Wenn ich nun anfange zu weinen … ich könnte nicht mehr stoppen.

Weinen ist so kraftraubend. Ich brauche diese, meine letzte Kraft zum Durchhalten, Aushalten, was bleibt mir anderes übrig? Paul weggeben? Ein unerträglicher Gedanke! Niemals! Ich schaff das schon! Dieses Eingestehen der Schwäche, des Versagens, der Ohnmacht, ist befreiend. Durchgefallen.

OK, was nun? Wie soll es weitergehen? Ich weiss keinen Ausweg mehr.

«Nun, Herr, hier werfe ich Dir meine Sorgen, meine Not zu dir hinauf. Bitte fang sie auf. Du hast nun das Päckli, oder besser gesagt den USB-Stick meines Netbucklis. Fang ihn auf, und bitte lies, was ich dir geschrieben habe. Amen. Danke, Du wirst sorgen für uns. Ich vertraue Dir.» (Fortsetzung folgt …)