Ferien? Denkste! - demenzjournal.com

Das Tagebuch (43)

Ferien? Denkste!

«Wie gut, dass ich heute Fränzi und Andy an meiner Seite wissen durfte. Allein schafft man solche Tage nicht.» Bild U. Kehrli

Nach Wochen der Planung, der Vorfreude und des schlechten Gewissens bringt Frau Kehrli ihren Paul ins Ferienheim, um ein paar Tage für sich selbst zu haben. Doch kaum wieder zuhause, ist bereits der Heimleiter am Draht und die Polizei involviert. Paul hat den Schnellzug genommen ...

30. März 2011 – Ein freier Tag

Heute habe ich Angst um Paul, als er weggeht. Tut so weh, ihn so hilflos zu sehen. Auch wenn ich froh bin um den freien Tag, befällt mich jedes Mal eine grosse Traurigkeit. Geht alles gut? Findet er den Weg noch?

Ich rufe an im Tagesheim. Ja, er ist angekommen. Ich bitte die Leiterin zu beobachten, ob er noch Zuckungen hat, dann bitte sofort ein Rivotril geben. «Schöne Ferien, also die nächsten drei Wochen kommt er nicht. Danke für alles.» 

Dann ein Mail an Seewinkel, wo Paul seine Ferien verbringen wird. Ob ich was anzahlen soll? Wenn Paul nicht ständig um mich herum ist, kann ich vieles erledigen. Zahlungen machen, Schreibtisch aufräumen – es bleibt so vieles liegen und macht mir ständig Druck.

Am meisten beunruhigt mich, dass so kurz vor den Ferien noch an Pauls Medikamenten rumgepröbelt wird. Fühle mich so hilflos. Eine weitere Spannung, die es auszuhalten gilt.

Beim angefangenen Puzzle fehlt ein Teilchen – so schade. Mit Knetmasse fülle ich die Lücke aus, lasse sie trocknen bis sie leicht ledrig wird, dann kann ich sie mit dem Skalpell (!) heraustrennen und einschleifen, mit Filzstift auch einfärben.

Paul wird sich freuen, wenn er das fehlende Teilchen einfügen kann. Für die Ferien gebe ich ihm das angefangene Puzzle mit, in ein Tuch eingerollt. Die Schächtelchen mit den nach Farben sortierten Puzzles sind auch bereit. Morgen also der Tag X. Schweres Herz, Angst, Beklemmung, Druck. Was habe ich uns da bloss eingebrockt!

1. April 2011 – Tag X

Heute ist es so weit. Pauls Ferien beginnen. Frühstück, alles läuft gut. Er erfasst, dass wir heute nach Thun fahren. Ich bin so dankbar, dass es nicht «heimlich» geschehen muss, er hat verstanden, wir haben gemeinsam die Koffer gepackt, an alles gedacht.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Die Fahrt nach Riggisberg zu Fränzi ist ein wunderbares Erlebnis, die Berge, frisch verschneit, strahlen in der Frühlingssonne. Auch Paul geniesst die Fahrt. Heute stören mich seine Kommentare nichtpass auf und so. Aber es ist mir schwer ums Herz. Ich fühle es wird für ihn nicht einfach sein, sich am neuen Ort einzugewöhnen, doch ich habe Vertrauen.

Der Empfang ist freundlich, der Heimleiter offeriert uns gleich Kaffee, vom Aufenthaltsraum aus sehen wir den See, die Berner Alpen. Fränzi begleitet Paul mit einer Pflegefachfrau in sein Zimmer und hilft beim Auspacken und Einräumen. 

Derweil unterhalte ich mich mit der Pflegefachfrau, die für die Medikamentenverwaltung zuständig ist. Sie ist freundlich und vertrauensvoll, ich vollziehe die «Stabübergabe». Ich fühle mich erleichtert, das wird schon gut gehen. Paul verabschiedet sich kurz von mir und geht an den Tisch, bald gibt es Mittagessen.

Fränzi lädt mich zu sich zum Mittagessen ein, die Kinder haben das Essen schon vorbereitet, ich geniesse ihre Gesellschaft.

Das beklemmende, mulmige Gefühl bleibt dennoch. Ich bin da und doch nicht da. Meine Gedanken schweifen immer wieder zu Paul. Mir ist elend.

Nachhause, kurz ausruhen, dann werde ich Hedi im Pflegeheim Laupen besuchen, es sind mehr als vier Wochen seit meinem letzten Besuch.

Ich geniesse es, allein im Auto zu sitzen, die Fahrt durch den Wald, die Ruhe. Auch die Gespräche mit Hedi tun mir gut, ich führe sie im Rollstuhl im Garten herum, ich kann mir Zeit lassen, ich werde nicht getrieben, gedrängt nach Hause zu müssen.

Dann endlich nur an mich denken. Langsam ist es Zeit meine eigene Reise vorzubereiten, ich freue mich auf die zwei Wochen mit Andy im Tessin. Gemütlich setze ich mich im Wohnzimmer hin, mit einem Glas Weisswein. Auf- und durchatmen, Ruhe geniessen, mich erholen. Zu mir selbst finden.

Ursula Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Das Handy läutet. Bis ich es endlich aus der Tasche geklaubt habe, verstummt es wieder. Ich schaue mir die Nummer an: Unbekannt. Ich rufe zurück: Besetzt. Wieder ein Versuch. Endlich: Eine aufgeregte Männerstimme, Paul sei weggelaufen, stehe auf dem Perron in Thun und beabsichtige in den Schnellzug nach Bern zu steigen.

Mir stockt der Atem. Sie hätten versucht, ihn davon abzuhalten, doch sei er sehr aggressiv geworden, hätte gar mit dem Stock nach ihnen geschlagen. Nachdem Paul Radau gemacht habe an der Ausgangstüre, hätten sie ihn halt gehen lassen müssen, der Heimleiter hinterher. Er hoffte, ihn zur Umkehr bewegen zu können.

Doch Paul sei einfach in den Bus nach Thun gestiegen, dort habe er am Schalter ein Billet nach Bern gekauft. Grosse Ratlosigkeit. Mir ist es unmöglich, Paul in Bern abzufangen, zu spät. Sie geben Paul das Telefon. Ich rede mit ihm.

Wohin er denn wolle? Nach Ostermundigen… Er ist sehr verwirrt, nein, er gehe nicht zurück. Die Medikamente seien doch dort, er müsse zurück… OK, sagt er, das scheint ihn überzeugt zu haben. Dann wieder ein Anruf. Paul sei dennoch in den Schnellzug eingestiegen. War nichts zu machen. 

Ratlosigkeit. Schrecken. Was nun? Paul würde in Bern den Weg nach Ostermundigen suchen, wo er viele Jahre gewohnt hat. Für ihn unmöglich, sich im Bahnhof zurechtzufinden. Wie bloss soll ich verhindern, dass er sich verläuft? Ich fühle mich total hilflos. Abgekämpft, verbraucht, durcheinander, aufs äusserte angespannt, ja, in Panik.

Wieder ein Anruf vom Heimleiter: Da sei eine Frau in Bern auf dem Perron gewesen, die hätte die Situation erfasst, sie werde Paul im Auge behalten und die Polizei orientieren.

Ich wähle die Notnummer 112. Ich wirke wohl unglaubwürdig, «Na, schon wieder», sagt der Mann am Telefon.

Es sei eine Zumutung, die sollen doch im Pflegeheim besser auf die Dementen aufpassen, sie müssten denen immer nachrennen – so oder ähnlich tönt es am andern Ende.

Das verletzt mich sehr. Ich sehe nur die Not, die Hilflosigkeit von Paul. Gebe dem Beamten eine Beschreibung, Grösse, Aussehen, Kleider, Gangart mit Stock, bitte ihn, doch die Patrouille darauf aufmerksam zu machen, damit sie ihn finden, bevor er sich ziellos in der Stadt verirrt. Nun muss ich abwarten, hoffen …

Nächster Anruf, die Polizei am Bahnhof: Sie haben Paul gefunden. Er warte auf dem Posten. Gott sei gelobt. Wann kommen Sie? Ich denke an mein Glas Wein, an die grosse Müdigkeit, wie schaff ich das bloss im Feierabendverkehr mitten ins Zentrum zu fahren? Wieder Stress! Aber ich vertraue darauf, dass es schon gut gehen wird.

Zügig fahre ich über die Autobahn, Forsthaus raus, ich kenne den Weg gut, Stadtbachstrasse, Parkhausdurchfahrt, Terrasse, viele freie Parkfelder. Aufatmen. Langsam gehe ich über die Teerrasse, wie im Schlafwandel finde ich den Polizeiposten.

Ein Beamter führt mich durch einen langen, düsteren Gang zu einem kleinen Büro. Da sitzt Paul. Mit Mütze, Jacke, Gehstock. Steht auf, schaut mich ungläubig an. Ich weiss nicht, wen er erwartet hat. Er erkennt mich, ich nehme ihn in die Arme, drücke ihn fest an mich. Grosse Liebe durchströmt mich, er hat Tränen, ich auch.

Selbst der Beamte hat feuchte Augen. Eine Lektion für ihn, sichtbar gemacht. Hoffentlich bildet er sich in Zukunft eine andere Meinung über «die Dementen».

Zuhause wärme ich die Kartoffelsuppe vom Vortag auf, das wäre heute mein Nachtessen gewesen. Nun löffelt er es genüsslich, er ist sehr hungrig. Bald sind auch Teigwaren bereit, ein Salat. Er isst alles gierig auf, als ob er tagelang gehungert hätte. Übers Essen dort äussert er sich negativ, wahrscheinlich hatte er nicht ein zweites Mal nachgefordert.

Danach geht er rastlos von einem Zimmer ins andere. Ich gebe ihm ein Temesta. Gegen neun Uhr kommen Andy und Fränzi mit seinen Medikamenten und Kleidern, die sie in Thun abgeholt haben. Nein, ich werde ihn nicht mehr ins Ferienheim zurückbringen. Das wird eh nicht klappen.

Paul geht in die Küche abwaschen. Sagt kaum Hallo. Er schwankt leicht, nimmt kaum Notiz von uns. Die vier Haferguetzli auf dem Tisch zerkleinert er mit einem Messer, gibt Wasser dazu und löffelt schliesslich dieses Süppchen aus.

Nachdem Fränzi und Andy gegangen sind, versuche ich Paul zu Bett zu bringen. Er schaut durch mich hindurch. Hört nichts, reagiert nicht. Ich gehe zu Bett, lasse ihm Zeit. Dann hole ich ihn, führe ihn ans Bett, bitte ihn, sich auszuziehen. Es dauert lange, bis heute endlich Lichterlöschen ist. Aber ich bin dankbar, er ist bewahrt worden.

Ich frage mich nur: Wie kann er solche Geschicklichkeit entwickeln, den Bus finden, in Thun ein Billet lösen und in den richtigen Zug einsteigen? Was hätte alles geschehen können unterwegs! Traurig bin ich, dass er in seiner Seele verwirrt, verletzt ist.

Diese Verlorenheit in einer Welt, die er nicht mehr begreifen kann, ich bin sein einziger Rettungsring.

Ostermundigen, die heile Kinderwelt, die Jahre seiner ersten Ehe dort im Elternhaus. Turner, Fussballer, Schulkollegen. Ostermundigen! Aber dort ist kein Rettungsring mehr.

Und ich, sein einziger Halt im Uferlosen, habe ihn heute im Stich gelassen, zurückgelassen in einem Speisesaal mit vielen alten, gebrechlichen Menschen, um ihn herum Rollatoren und Rollstühle, alles fremd, ihm ungewohnt. 

Armer Paul! Was habe ich Dir zugemutet! Meine Tränen lösen die Anspannung vom Trubel des Tages. Wie gut, dass ich heute Fränzi und Andy an meiner Seite wissen durfte. Allein schafft man solche Tage nicht. (Fortsetzung folgt … )