Warum ist er nicht lieb zu mir? - demenzjournal.com

Das Tagebuch (42)

Warum ist er nicht lieb zu mir?

«Wozu jetzt noch die Medikamente umstellen, nur wenige Tage vor Pauls Ferien? Warum ausgerechnet jetzt noch den neuen Arzt einschalten? Die Neueinstellungen der Medikamente wäre längst fällig gewesen. Meine Bedenken gegenüber dem Hausarzt hatten nichts bewirkt.» Bild U.Kehrli

Frau Kehrli hat viel Freude am Geben, das ist ihr Naturell. Doch was soll sie machen, wenn Paul nichts von ihr annimmt? Das lässt sie verzweifeln. Doch nicht genug: In seinen Augen scheint sie ein Mann zu sein, Paul redet von «ihm», wenn er damit sie meint.

25. März 2011 – Er ist so lieb

Als ich kürzlich mit Paul bei der Podologin war, sagte sie beim Abschied: «Zum Glück ist Ihr Mann so lieb …». Denkste … soll sie mal versuchen, einen ganzen Tag mit ihm zusammen zu sein!

Ich meine damit die endlosen Versuche, ihm ein frisches Hemd anzuziehen, wenn er sich unbedingt wieder das stinkende überziehen will. Oder wenn er subito zum Coiffeur gehen will und nicht warten kann, bis ich ihn hinfahre. Oder die vielen Kommentare, wenn ich beim Kochen bin oder Auto fahre.

Ich nicke, ja er ist lieb. Ja, stimmt, eigentlich ist er ja lieb. Er wäre lieb, wenn ihm nicht immer der «Mann B» in die Quere käme.

«Er ist so lieb», sagte heute auch die Spitex-Frau. «Manchmal aber auch gar nicht», fügt sie noch hinzu. Gerechterweise, denn oft hat auch sie unter seinem Besserwissen und den Aggressionen zu leiden. Sie erlebt ihn also auch in solchen Momenten. Aber nur eine Stunde pro Woche.

Das ist erträglich. Eine Stunde Paul hüten würde mir auch Freude machen. Eine Stunde pro Woche, vielleicht auch zwei.

Warum kommen all die lieben Mitmenschen, die Pauls Lieb-Sein so ausdrücklich betonen, ihn nicht mal besuchen, vielleicht sogar einen ganzen Nachmittag lang?

Mich entlasten! Sollen sie doch mit ihm zum Arzt, auf dem Weg stets nach einer Toilette Ausschau haltend, ihn durch die vielen Menschen schleusen, ihn behüten im Bus wenn er zu früh aussteigen will, wenn er glaubt, zu wissen, welchen Bus nehmen und sich zum richtigen nicht hinführen lässt. Diskussionen, Überzeugungsarbeit, Erklärungen, endlose.

Wie gerne würde ich ihn euch geben, stundenweise, ja, ja er ist lieb. Nur ich weiss ihn nicht richtig zu nehmen, wie es scheint. Denkt ihr, ich bin wohl das Problem? Aber warum kommt ihr ihn nicht besuchen? Kommt, ich lade euch ein!

26. März 2011 – ZDW

Zwingend – Dringend – Wichtig. Wieder einmal muss ich diese Formel anwenden, um nicht ins Schleudern zu geraten. Was mir Sorgen bereitet: kaum bin ich eine Stunde zu Fuss unterwegs, schmerzen mich Knöchel, Schienbein, Waden, Knie, ja die ganzen Beine.

Brennende Schmerzen, nach einer Stunde unterwegs kann ich kaum mehr gehen. Jeder Schritt ist eine Qual.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Heute werde ich es wieder mit einem Waldspaziergang versuchen, dabei werde ich aber die Wanderschuhe anziehen. Ob da ein Unterschied ist zu den gewöhnlichen Halbschuhen? Bin gespannt.

Oder ist es einfach ein psychosomatisches Signal, ein Zeichen, dass ich nicht mehr kann? Ich habe von zwei Angehörigen gehört, die Lähmungserscheinungen hatten, weil ihr Körper mit «ich-kann-einfach-nicht-mehr» für sie geredet hat.

Doch mein Körper braucht sich nicht mit solchen Zeichen zu melden, ich spreche für mich selbst. Meine Kraftpillen heissen: «Ich vermag alles, durch den, der mich mächtig macht: Christus Jesus».

Und ich habe ja nun die Ferien brav geplant und für Paul vorgesorgt, ich werde ihn am nächsten Freitag bringen, und am Sonntag mit Andy ins Tessin fahren. Und für die Vorbereitungen werde ich die nötige Kraft bekommen.

Paul hat sich nie wichtige Daten merken können. Weder meinen Geburtstag, geschweige denn unseren Hochzeitstag. Heute wollte uns eine besondere Freude machen. Frühes Mittagessen (Poulet an süss-saurer Sauce mit Ananas und Peperoni, dazu breite Nudeln und Salat), bereits um ein Uhr geht’s dann los: «Überraschung!».

Das Ziel: Chutzen auf dem Belpberg. Dort waren wir, als wir uns kennen lernten. Heute, 28 Jahre später, gehen wir auch wieder zu Fuss auf den Chutzen. Leider ist das Restaurant geschlossen, den Ausblick geniessen wir, auch wenn er nicht super klar ist. 28 Jahre – das scheint eine lange Zeit zu sein und ist doch so schnell verflogen.

Ursula Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Zvieri gibt es im Thalgut, Wichtrach, Kaffee und Nussgipfel. Die wunderbaren Blumenarrangements beim Eingang und auf der Terrasse begeistern mich, der Chef habe sie selbst gemacht, hiess es. Noch nie habe ich eine so vielfältige Dekoration vor einem Gasthaus gesehen. Die Serviertochter bringt uns Kissen, draussen sitzen sei zwar OK, ein kalter Po aber nicht zu empfehlen.

Wieder zuhause ist Paul total verwirrt. Er sucht «ihn», mit dem er weg war, den Kollegen. Wo ist er, hat er das Auto schon in die Garage gestellt? Er redet oft von «ihm», wenn er mich meint. Dann erzählt er mir, was «er» gesagt oder gemacht habe. Muss mich daran gewöhnen. Anfangs versuchte ich ihm zu erklären, dass ich es gewesen sei, aber das nützt jetzt nichts mehr.

27. März 2011 – Medikamentenrummel

Sonntag, Beginn der Sommerzeit, es braucht alle Tricks aus Kiste 77, bis ich seine Uhr umstellen darf. Wahrscheinlich mache ich wohl alles verkehrt, dass er bei mir nicht «lieb» sondern oft aggressiv und hartnäckig ist. So wie heute Morgen.

Er ordnet die Medikamente für eine Woche in die Schublädchen, danach helfe ich: Was müssen wir für die nächsten drei Wochen nachbestellen? Langsam begreift er das mit seinen Ferien. Portionenweise, nach und nach erzähle ich ihm davon, rede darüber.

Gemeinsam zählen wir die Anzahl Tabletten im Blister, ich lege die Medikamente ins Etui, das er in die Ferien mitnehmen kann. Als ich seine Augentropfen hineinlege, reisst er mir die Schachtel aus der Hand. Die hätte er selbst bezahlt, die gehörten da nicht hinein und viele laute Proteste mehr.

Ach, wie ich es satt bin, ihm alles x-Mal zu erklären, ich nehme einen weiteren Anlauf, nun scheint es doch noch zu klappen. Ein paar Minuten später kommt er wieder mit dem Medikamenten-Etui, hat erneut Fragen, es folgen weitere Diskussionen.

Netbuckli, liebes, (das ist mein Notebook), danke, dass du mir zuhörst, es ist gerade wieder mal so nervig, zappelig in mir, ich fühle mich so einsam, rastlos, aufgekratzt.

Termin über Termin und nun auch noch mein kaputter Backenzahn, der mit scharfer Kante meine Zunge reizt. Brauche dringend einen Termin beim Zahnarzt. Auch das noch!

Morgen früh um acht Uhr beim Neurologen, dann Apotheke und Rasierzeug neu besorgen (das bezahle er aber selbst, versichert er mir. Es geht immer wieder ums Geld, da hat er ein Riesenproblem), Wäsche und Kleider bereit machen.

Mittags wird das Auto abgeholt, Pneuwechsel, Service, Abgastest. Und ich möchte noch Kuchen backen für Jürg und die Mechaniker, die so gut zu meinem Auto schauen. Die freuen sich immer an meinem Kuchen. Freude bereiten belebt auch mich.

28. März 2011 – Stresstag 

Gestern Sonntag war Zeitumstellung, eine Stunde vor. Heute Montag um acht Uhr ein Ersttermin beim Neurologen. Jetzt ist es fünf. Paul macht Kaffee, er ist schon angezogen. Ich möchte nur eines: Schlafen.

Versuche ihn wieder ins Bett zu locken, umsonst. Ich ziehe die Decke über den Kopf, ist mir egal, soll er machen was er will. Ich bin zu müde. Viertel vor sieben, der Wecker piepst, Paul steht auf und stellt ihn ab, ist wohl doch wieder ins Bett gekommen. Mühsam erhebe ich mich. Als hätte ich eine Freinacht hinter mir. Oder eine anstrengede Bergtour.

«Was anziehen?» Erklärungen, langsam, nachprüfen, wieder erklären, wie ein Endlostonband. Roboter könnten das eigentlich übernehmen. Knopfdruck, Erklärungen ablassen. Zwei Minuten warten, dann nochmals. Nochmals. Nochmals.

Schnell noch das Frühstück, der Kaffee ist heiss geblieben, zum Glück fliesst der Filterkaffee direkt in einen Thermoskrug.

Die Unterlagen für den neuen Arzt sind bereit, Handy, Notizblock, Agenda, Schlüssel, Kugelschreiber. Kurz vor acht Uhr hat es viel Berufsverkehr. Die Fahrt ist geprägt von Pauls Kommentaren, Korrekturen, vom Dreinreden, wohin, warum, warum nicht, solltest doch. Bis ich losschreie: «Bitte, sei still, ich brauche Ruhe!»

Endlich, Parkplatz gefunden. Wenige Schritte von der Praxis entfernt. Der Empfang ist freundlich, dann folgt ein langes Gespräch mit dem Arzt. Erst richtet er viele Fragen an Paul, macht Notizen von dem Gestammel, Paul tut mir wirklich leid. Da merke ich wieder, wie schlecht es um ihn steht. Dann viele Fragen an mich, da merke ich auch, wie es um mich steht. 

Am liebsten würde ich jetzt einfach aufstehen, den Raum verlassen, schaut doch selber, das geht mich nichts an. Paul weiss ja eh alles besser, er hört nicht auf mich, bleibt stur bei seiner Meinung …

Der Arzt ordnet ein EEK an, kurze Verschnaufpause für mich. Schade, gibt es keinen Kaffee. Hätte ihn so nötig. Dann schnell runter, die Parkscheibe umstellen, wir sind schon seit eineinhalb Stunden hier!

Wozu jetzt noch die Medikamente umstellen, nur wenige Tage vor seinen Ferien? Warum ausgerechnet jetzt noch den neuen Arzt einschalten? Die Neueinstellungen der Medikamente wäre längst fällig gewesen. Meine Bedenken gegenüber dem Hausarzt hatten nicht gefruchtet.

Ich muss loslassen, ich kann nicht alles kontrollieren, im Griff haben, und dauernd versuchen, mögliche Pannen zu vermeiden. Was ich tun konnte und kann, das habe ich getan. Das mulmige Gefühl beim Gedanken an die Ferien nimmt dennoch zu.

Dann zur Apotheke, auch da mischt sich Paul wieder ein, wie und wo ich parkieren müsse, nein, nicht da, fahr doch hier lang … . Er bleibt im Auto, er komme etwas später, müsse aufs WC.

Zurück im Coop gibt’s wieder Anweisungen. Ich lasse ihn seine Rasierklingen aussuchen und gehe zum Gemüse. Da höre ich Paul ganz ausser sich an der Kasse, eine Verkäuferin versucht ihn verzweifelt zu beruhigen. Endlich finden wir die Klingen, zurück zum Auto. Heimwärts.

Aufatmen, alles ist gut gegangen, trotz allem. Auto bereit machen, es wird gleich abgeholt. Pneuwechsel, Abgastest, kleiner Service. Dann ab in die Küche, Mittagessen vorbereiten. Schon steht Paul wieder neben mir, ich möchte Gemüse rüsten, seine Nähe nervt mich, ich möchte einen Moment allein sein, um etwas runterzufahren.

Ich bitte ihn, den Salat später zu rüsten. Nützt nichts.

Fast drehe ich durch. Ich glaube, ich habe eine Paul-Nähe-Allergie. Schrecklich, so etwas zu sagen. Aber es ist so.

Das merke ich jeweils, wenn er am Mittwoch ins Tagesheim geht und ich nach dem Winken die Türe schliesse. Aufatmen! Erlöst! Befreit! Entlastet! Druck weg! Treiber losgeworden!

Endlich wieder mich selbst wahrnehmen. Schreckliche Feststellung. Dieser Paul, den ich früher so gerne an meiner Seite hatte, ist zum ständigen Druck geworden! Ich muss ein halbes Xanax nehmen, ich habe das Gefühl ich zerplatze. Um zwei Uhr Termin beim Zahnarzt. Endlich werde ich wenigstens diese Schmerzen los.

Inzwischen hat meine Schwiegertochter angerufen und sich mit Paul unterhalten. Er erzählte ihr von seinen Ferien! Wo ich gerade sei, habe er vergessen. Pneu wechseln, meinte er nur. Welch‘ grosses Geschenk: Fränzi wird Paul und mich ins Heim nach Thun fahren. Wie bin ich froh! Und auch etwas beruhigt. Die Botschaft ist angekommen, er weiss von seinen bevorstehenden Ferien.        

Abends ist Paul sehr unruhig. Obwohl er recht klar wirkt, scheint er wie innerlich getrieben. Rastlos geht er von einem Raum in den andern, recht flink, nicht so bedächtig wie gewohnt. Um neun will er schon ins Bett.

Danke, ein Stresstag geht gut zu Ende. (Fortsetzung folgt … )