Langsam wird es brenzlig - demenzjournal.com

Das Tagebuch (39)

Langsam wird es brenzlig

«Mir gefällt das Wort Resilienz. Kommt aus der Physik: Es meint elastische Stoffe, die unter äusserem Druck nicht zerbrechen und nach der Deformierung wieder ihre alte Form annehmen.» Bild U. Kehrli

Frau Kehrli schreibt sich den Frust von der Seele, sie wird immer dünnhäutiger. Die Gesellschaft sei verweichlicht und früher sei eben doch vieles besser gewesen.

12. Februar 2011 – Tandem

So komme ich mir manchmal vor: Paul und ich auf dem Tandem. Nun muss ich die Führung übernehmen, er sitzt hinten. Ich lenke, denke, trete in die Pedale, und Paul? Oft bremst er, weil er nicht zuordnen kann, wohin wir fahren, warum wir überhaupt fahren.

Endlose Fragen, Erklärungen. Nun habe ich statt einer Hilfe hinten auf dem Velo einen Bremser. Das ist nicht nur traurig, sondern sehr beschwerlich. Dies Bild hatte ich heute Morgen. Wann immer ich die Initiative ergreife, etwas tun muss, steht er quer; bildlich, aber auch im Alltag.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Nach dem Einkaufen will er auspacken, verstaut die Sachen oft am falschen Platz. Er will helfen, und macht es verkehrt. Nervig für mich, frustrierend für ihn.

Vorhin kam er mich suchen. «Wo ist deine Schwester?» Ich habe keine Schwester. Er meint damit mich. Dann folgen Fragen, Erklärungen, ich verstehe ihn nicht. Er findet die Worte nicht mehr, er sucht danach. Ich muss raten. Wie traurig. 

Überhaupt. Ärgere mich gerade furchtbar. Vorhin im Keller, ein Blick in die Waschküche, das Fenster weit offen, bei dieser Kälte! Bosheit? Dummheit? Keine Wäsche aufgehängt, einfach das Fenster offen gelassen. Wie lange schon? Weiss nicht. So blöd können Menschen sein.

Einfach geheizte Trockenräume offen lassen! Für nichts, oder einfach, um mich herauszufordern? Ich lerne solche Dinge wegzustecken, wundere mich aber über die Dummheit und den Mangel an Einsicht von Menschen, die im Alltag eigentlich gar nicht so blöd wirken.

13. Februar 2011 – Die Dreizehn 

Wie blöd die Menschen doch sein können! Sie freuen sich auf den 13. Monatslohn und schrecken dennoch vor der Zahl 13 zurück. Ohne die 13 gäbe es keine Zahlenreihe. Ohne die 13 hinge der ganze Monat in der Luft. Ohne dein 13. Lebensjahr würdest du nicht leben.

Also: Was soll dieses Getue um die Zahl 13? Dieser Aberglaube. An einem 13. wurde mein Sohn geboren. Ein Tag der grössten Freude für mich!

Was du denkst, bist du. Glaubst du ans Unglück, ziehst du es an. Was ich gefürchtet, ist über mich gekommen. Ich schliesse dabei Vorahnungen nicht aus.

Auch das gibt es.

Heute las ich den Artikel von Saul Friedländer in «Das Magazin». Der Historiker schreibt über den Holocaust, das «Unwort» Nazi, und den leichtfertigen Missbrauch dieses Wortes, das oft und in allen möglichen und unmöglichen Situationen verwendet wird. Der Holocaust ist mit nichts anderem zu vergleichen. Auch die Geschichte der Nazis nicht. Wir sollten fassungslos bleiben. So heisst der Artikel.

Im gleichen Magazin lese ich «Und wie geht es uns heute? Gut.» Warum nicht wenige Menschen schreckliche Erlebnisse bestens bewältigen können. Es geht um das Modewort «traumatisiert», diese endlosen Entschuldigungen, wenn der leiseste Hauch von Schicksal einen Menschen erreicht.

Sofort wird ein Care Team mobilisiert und dadurch oft alles noch schlimmer gemacht. Nicht, dass es für manche Menschen nicht hilfreich wäre, doch ebenso kann es anderen Betroffenen schaden.

Ein Interview mit Ursula Kehrli

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Mir gefällt das Wort Resilienz. Kommt aus der Physik: Es meint elastische Stoffe, die unter äusserem Druck nicht zerbrechen und nach der Deformierung wieder ihre alte Form annehmen.

Resilienz heisst: Menschen, die einen Schicksalsschlag erleben, werden wie Frühlingsblumen unter einer unerwarteten Schneelast zuboden gepresst, richten sich durch die Sonne wieder auf und blühen weiter. Oder wie nach einem Hagelwetter: Zerzauste, zerstörte Blüten am Baum blühen erneut auf.

Es kann auch vorkommen, dass zersplitterte Maisstauden erneut ausschlagen und sogar die doppelte Ernte hervorbringen.

Ganz nach dem Motto: «Was mich nicht umbringt, macht mich stark».

Einerseits gibt mir die verständnisvolle Anteilnahme am Geschick von Pauls Krankheit erneut Trost und den Mut, das alles durchstehen zu wollen, andererseits führen die Gespräche in der Selbsthilfegruppe dazu, mich um die Zukunft zu ängstigen. Sie machen mich betroffen, traurig und kraftlos.

Ein zu viel an Zuwendung kann schaden, ein zu wenig – wie am Beispiel der Ärztin, die laut über Pauls Verhalten lachte und kein Verständnis für die grosse Belastung in meiner Situation zeigte – kann zusätzlich Trauer und Schmerz bewirken.

Oft habe ich heutzutage den Eindruck, dass die Menschen verweichlicht werden mit zu vielen Hilfsangeboten und zu viel Zuwendung. Alles wird abgefedert, finanzielle Unterstützung wird schnell zugesagt, damit ein komfortabler Lebenswandel gesichert ist.

Meine Eltern hungerten, als Vater arbeitslos war und ich geboren wurde. Nur, damit sie keine Schulden machen mussten. Vater nahm irgendeine Arbeit an, um durchzukommen. Verzicht, Einschränkung und Kampf waren Alltag. Meine Mutter ging an Bankett-Anlässe servieren. Um drei Uhr morgens, nach harter Arbeit, musste sie zu Fuss nachhause gehen – vom Kursaal in Bern bis nach Wabern!

Opferbereitschaft, Durchhaltewill waren gefragt. Sie hatten gar keine Zeit, ihren depressiven Gefühlen nachzuhängen.

Um sich im Selbstmitleid zu suhlen und einem Psychiater die Seelennöte der verkorksten Jugend anzuvertrauen – dazu hatte man früher weder Zeit noch eine Krankenkasse, die das finanziert hätte.

Diese Menschen wurden resilient. Durch das Schicksal, das sie anpackten, um die Prüfungen auszuhalten und zu bestehen.

Müsste heute jeder für sein Überleben, seine täglichen Bedürfnisse kämpfen, gäbe es bestimmt weniger «traumatisierte» Menschen. Auch weniger Krawalle, Zerstörungswut, Arbeit ist Therapie.

Als ich in einer Depression zu versinken drohte, ging ich aufs Geratewohl in einen Reformladen, um zu fragen, ob sie eine Beschäftigung für mich hätten. Ich wusste: Raus aus dem Haus, etwas tun, nicht zuhause rumsitzen! Ja, sie wären froh um etwas Hilfe in der Adventszeit, um Trockenfrüchte in Körbchen zu dekorieren.

Obwohl ich dort im Kellergeschoss alleine arbeiten musste, haben mir schon das von zu Hause weggehen, das mich zurecht machen, geholfen. Die Gefahr des Zusammenbruchs war fürs erste gebannt. Diese paar Tage – neue Kontakte, Ablenkung, sich zusammenreissen müssen – das war eine echte Therapie.

Das gilt auch heute: Mich nur nicht hängen lassen. Einen Tag nach dem andern anpacken. Etwas tun. Mich nicht der Trauer um meinen Mann ergeben. Die heute als altmodische Erziehung abgetane Einstellung «Reiss dich zusammen!» hat schon auch ihr Gutes.

Ist die Erziehung zu wattiert, verwöhnt, dreht sich alles um individuelle Gefühle, dann werden die Kinder nicht widerstandsfähig für harte Schicksalsschläge.

Hilfe wird dann immer von aussen, von anderen erwartet. 

Es wird nach Schuldigen gesucht. Selbstverantwortung zu übernehmen hat man kaum gelernt. Zuerst sind die Eltern schuld, dann die Lehrer, dann der Staat. Zu oft wird die Opferrolle eingenommen, ohne sich vorher mit der Vergangenheit zu versöhnen und damit auch all den «Tätern» zu vergeben.

Heute sind auch noch Wahlen. Am Dreizehnten! Ha, da wird sicher der eine oder andere Politiker einen Zusammenhang suchen, wenn seine Wahl bachab geht. Und dann dieses Getue um die Hochrechnungen, wo sich jeder profilieren will, um die schnellsten Ergebnisse zu errechnen.

Die Menschen können nicht mehr warten. Was hat das für einen Einfluss auf die Sache, ob man drei Stunden früher erfährt, wie die Wahlen ausgegangen sind? Na ja, da bekommt einer am Fernsehen ein Pöstchen, um sich wichtig zu machen. Und die Zuschauer haben ihre Show.

Zeitvertrieb, Spannung. Wozu? Alles eitel und Haschen im Wind, würde unser weiser Salomon dazu sagen.

Die Alten schimpfen immer, dachte ich als junger Mensch. Sie sind unzufrieden und beklagen sich dauernd. Nun bin ich alt geworden. Und ich schimpfe auch. Aber ich bin nicht unzufrieden.

Kann ich es als schimpfen ansehen, wenn ich mir Gedanken über das «Greifen nach dem Wind» mache? Über die Sinnlosigkeit des hiesigen Tuns, angesichts der grossen Probleme und des Hungers in der Welt? Wofür alles Geld verschwenden, Güter zerstören und Energie verpuffen? Es blüht eine Hetze nach Unterhaltung.

Das Leben geniessen. Für viele heisst das Saufen und Tanzen bis zum Umfallen, Kilometer abklopfen.(Nichts gegen Reisen, um die Welt zu entdecken, ich meine nur das unsinnige Konsumieren aus Langeweile.) Auf der Suche nach Befriedigung der Lust und dem Auffüllen des inneren Vakuums.

Mangel an Bildung ist oft eine Ursache. Mangel an Gemeinschaft in der Familie.

Wo bleibt der Boden des Kulturbewusstseins, die Werte der eigenen Wurzeln? Die Pflege von Brauchtum, Achtung, Ehrfurcht, Respekt vor der Geschichte?

Wo bleibt das Interesse an der Natur, an den Pflanzen, den Tieren? Die Berge werden mit Action und Adrenalin überrannt, mit dem Heli überflogen für waghalsige Skiabfahrten (früher bildete der Aufstieg mit Fellen ein Teil des Genusses). Ein Ruhe suchender Mensch leidet unter diesem Lärm.

Wo kann man noch die Stille und Ruhe in den Bergen finden? Segelflieger lassen sich hinaufziehen, das Gedröhne der Motoren quält die Berggänger. Des einen Genusses der andern Qual. Meine Freiheit wird durch so viele Übergriffe anderer beschnitten.

Meine Freiheit hört da auf, wo des andern Freiheit beginnt. Das wird heute kaum mehr berücksichtigt. Jeder will alle Freiheit, ohne Respekt, weder zu Menschen noch zur Natur. Es muss für mich stimmen. Mütter fragen das Kleinkind: «Stimmt’s für Dich? Ist es gut so?». Überforderung total. Kleine können noch gar nicht entscheiden, was gut für sie ist. Aber eben, es muss stimmen…

Weniger ist manchmal mehr. Das ist eine ewige Wahrheit. Bescheidenheit üben wäre der Weg zur Besserung unserer Welt. Es gäbe genug für alle. Nahrung, Lebensraum, Lebensqualität. Doch der Mensch ist von Natur aus egoistisch. Raff- und Habgier – das sind die formenden, prägenden Charakterzüge geworden.

Es wird Veränderungen geben. Aber Bäume wachsen nicht in den Himmel. Gut, wer gelernt hat, bescheiden zu leben, in sich zufrieden zu sein, ohne dauernd auf Achse sein zu müssen. (Fortsetzung folgt … )