Plaques verkleben die Verbindungen habe ich gelernt. Das Buch ist packend geschrieben: «Alzheimer: Spurensuche ins Niemandsland» von Michael Juergs. Er beschreibt auch das Leben von Alois Alzheimer.
Wir sind gemeinsam in eine neue Phase gekommen. Es fällt mir leichter, meine Aufgabe als Betreuende anzunehmen. Langsam wachse ich in die Aufgabe hinein, die erste Phase des Ignonieren des Problems, der Wut, der aufgestauten Verletzungen aus früheren Zeiten ist durchgestanden.
Nun fühle ich mich (endlich) wie der barmherzige Samariter. In mir ist Barmherzigkeit gewachsen, auch die Geduld, ich ertrage viel mehr als früher. Paul ist gefügiger, weniger aggressiv, wenn – zum Glück – auch nicht willenlos geworden.
Anweisungen lerne ich mit einfacheren Worten zu geben, auf seine Fragen kann ich geduldiger antworten, selbst wenn ich mich zwei-, dreimal wiederholen muss.
Nun sitzt er da auf dem Bettrand, kann mir sein Problem mit dem linken Fuss erklären, die zwei Zehen, die sich übereinander geschoben haben und ihm weh tun. Ja, am Donnerstag gehen wir zur Podologin.
Gut, damit habe ich ihn vertröstet.
Nun, der Orthopäde konnte ihm nicht helfen, er müsste operieren, hiess es. Das aber würde Paul nicht durchstehen, zu sehr gerät er im Spital in dramatische Stresssituationen. Auch die Zeit danach, mehrere Wochen mit Gipsverband, würden seinen Alltag allzu sehr durcheinander bringen.
Wir entschlossen uns für Variante B, den Spezialschuh. Der kostete gut tausend Franken, den Schuh trägt er jedoch selten. Zu schwer, sein Kommentar.
Es ist gut, wenn ich mir mehr Zeit nehme für Paul. Dazu muss ich Eigenes zur Seite stellen. Das heisst auch, mein geliebtes Cellospielen einschränken. Das tut weh, aber mir ist es herzenswichtig, für Paul da zu sein.
Diese Zeit noch nutzen, solange er mich und unsere Gemeinschaft noch wahrnimmt. Gemäss den Prognosen zu Alzheimer/Demenz wird sich eines Tages ein Abgrund vor ihm auftun, er wird versinken ins Vergessen, wird seine Erinnerungen nicht mehr abrufen können. Seine Wahrnehmung wird gänzlich getrübt sein.
Er wird eintauchen in die Einsamkeit, die Finsternis, eine Welt, wo ihn niemand mehr erreichen kann und aus der er keine Zeichen mehr geben kann.
Wie ein Bergmann, eingeschlossen in den Tiefen der Erde, der keine Klopfzeichen mehr nach oben geben kann. Ein schrecklicher Gedanke! Wie lebendig begraben.
Ja, ich will die Zeit nutzen. Sind es Tage, Wochen, Monate, Jahre? Niemand weiss es. Ich nehme einen Tag nach dem anderen, kann nicht darüber hinaus planen.
Heute beim Frühstück hatte er wieder Zuckungen, ich musste handeln und ihm sogleich eine Rivotril Tablette geben. Nachdem er Kaffee verschüttet hat, höchste Zeit. Die wirken, danach wird er ruhig. Dies kommt in letzter Zeit öfter vor. Was läuft ab in seinem Kopf? Epilepsie ist wie Gewitter im Gehirn. Diese Zuckungen sind wie Wetterleuchten, die ein Gewitter ankündigen.
Mein Bruder und seine Frau sind entschlossen, zusammen aus dem Leben zu scheiden (mit Exit), sobald ein unzumutbares Ereignis ihre Gesundheit oder den Geist beeinträchtigen würde. Doch wie kann man den richtigen Zeitpunkt «wissen»?
Wie würden sie heute entscheiden, in einer Situation, wie sie Paul erleiden muss? Hat man das Recht, über das Leben des Anderen zu entscheiden? Woher will man wissen, ob sich unter gewissen Umständen die Meinung des Betroffenen nicht doch geändert hat?
Man darf seine Meinung ändern: Man wächst in eine neue Situation hinein, welche dann unser Denken verändert.
Sie stellen sich alles zu einfach vor: «Wir werden mal beide zusammen gehen, tschüss und das war’s!» Das kann man sich zwar wünschen, aber es dann auch zu tun, zu entscheiden wann, das ist ein anderes Kapitel. Was, wenn der eine Partner unheilbar krank ist und der andere noch kerngesund?
Ein schrecklicher Gedanke, sich selbst zu töten.Paul sagt
«es geht schon … mit mir. Jetzt gehe ich … dort … hinaus … weisst du, … schleifen». Ah, in die Werkstatt. Er nickt. Noch bedient er ab und zu die grosse Schreinermaschine, kann ich es ihm verbieten?
Viel zu gefährlich, ich weiss, doch es macht ihn glücklich, ab und zu fürs Tagesheim seine Fähigkeiten als Möbelschreiner zu zeigen, die in beschränktem Masse noch vorhanden sind.
Es ist gut gegangen in der Werkstatt, zufrieden kommt er zurück und setzt sich hinter das neue Puzzle.
Mir fällt auf, wie oft ich heute das Wort «noch» verwende. Absichtlich? Nein, realistisch. Lange Zeit hatte ich grosse Mühe damit, heute kann ich es verwenden, mit einer gewissen Dankbarkeit für alles, das «noch» funktioniert.
Zufrieden sein mit dem Heute, mit viel weniger als früher, sich der Vorstellung verschliessend, was ihm alles noch geraubt wird.
Anruf von Carlo. Er hat wieder Frieden im Haus, die Schwiegertochter ist bis zum Sommer nach Amerika verreist. Der Sohn arbeitet zu Hause, Carlo und er haben es so gut zusammen. Es tut ihm gut, er lebt auf. Heute sei er zu Fuss ins Dorf, um mir ein Büchlein zu senden. Er denkt immer an mich, verwöhnt mich.
Zwar tut mir das gut, aber ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn liebe. Ich mag ihn, ja, aber nicht so, wie er es sich wünschte. Für mich ist und bleibt er einfach ein Bruder im Herrn, ein guter Kamerad.
Es geht mir besser, Fieber habe ich keines, der Husten bellt trocken, ist aber nicht schlimmer geworden. Dennoch habe ich bis Mittwoch alle Termine abgesagt, auch das Mittagessen und den Nachmittag mit meinem Sohn Andy, so Leid es mir auch tut. Doch am Donnerstag – zur Podologin mit Paul – da muss es einfach gehen.
12. Januar 2011 – «Noch»
Gestern staunte ich über das Wort «noch», das ich so oft verwende, wenn ich über Paul schreibe. Heute Morgen fiel es mir besonders auf, staunend und dankbar, was Paul «noch» alles kann. Um sechs Uhr beobachtete ich ihn, wie er sich ankleidete, schön alles der Reihe nach, genau so, wie ich ihm die Kleider hingelegt hatte.
Dienstagabend. Er ist aufgeregt, morgen geht er ins Tagesheim. Er nimmt das Mäppchen hervor, in dem er früher jeweils die Löhne für seine Putzfrauen abholte. Darin verstaut er das Holzrähmchen, das er geschliffen und fertig gestellt hat. «Der… hat dann … Freude», stammelt Paul. Das Sie und Er bringt Paul oft durcheinander. Von mir spricht er auch oft als Er.
Ich glaube er meint damit Frau Andress, die Therapeutin, die stets dankbar für Pauls handwerkliches Können ist, das wenige, das noch erhalten ist. Schrecklich, immer dieses «noch». So sehr ich auch zu phantastischen Höheflügen neige, in dieser Situation bin ich realistisch. Realistisch geworden wohl eher.
Früher versuchte ich all den Büchern über Demenz auszuweichen. Es überfiel mich jeweils Panik, Entsetzen, wie ein Vogel Strauss steckte ich meinen Kopf in den Sand, wollte einfach nichts davon wissen. Das kann doch nicht sein! Das bilde ich mir doch nur ein …
Es braucht alles seine Zeit. Es ist ein Weg, den man gemeinsam geht. Ein Weg, den ich anfangs nicht zu gehen gewillt war.
Sorgsam prüft er, ob noch eine gültige Fahrt auf der Abonnementskarte ist. Dann Schuhe putzen. Vieles, das sonst im Alltag untergegangen ist, hat sich bei diesem Ritual am Dienstagabend erhalten. Weil wir schon früh in der Krankheit mit dem Aufenthalt im Tagesheim begonnen haben, hat sich dieser Mittwoch als fester Bestandteil in sein Leben integriert.
Dort erhält er Lob, Anerkennung, Bestätigung seines Selbstwertgefühls, die Betreuenden verstehen es gut, mit ihm umzugehen. Sie sind es gewohnt und versuchen alles «noch» zu mobilisieren, zu erhalten, zu fördern, und eben – ihn zu loben und zu ermutigen.
Wie oft habe ich versucht Paul beizubringen sich auf der Toilette hinzusetzen! Besonders wegen der Sturzgefahr in der Nacht. Umsonst. Da fragte mich kürzlich die Leiterin des Tagesheimes an, ob das zuhause denn funktioniere.
Sie hätten ihm das im Heim beizubringen versucht, doch er habe sehr aggressiv reagiert. Darauf hin schrieb ich ABSITZEN BITTE auf den Spülkasten. Und siehe da – er hat es noch gelernt. Auch wenn es nicht immer klappt.
Warum so erstaunt? Der Alltag zeigt ein anderes Bild. Da geht praktisch nichts Neues mehr in den Kopf, und Altvertrautes verblasst. Menschen werden nicht mehr erkannt, Namen vergessen, Gesprächen kann er nicht mehr folgen.
Sätze, die er formulieren möchte, verstummen nach zwei, drei Worten. Den Rest muss ich erraten, erfragen, erahnen.
Wenn sich Paul jeweils am Mittwochmorgen bereit macht für den selbständigen Gang ins Tagesheim, die Fahrt mit dem Bus, den Fussmarsch vom Bahnhof Süd ins Heim,
da kommt es mir fast vor wie früher, ein Rest heile Welt. Dann kann ich mir kaum vorstellen, dass im Alltag so vieles nicht mehr funktioniert.
Ein auf und ab, ein Funktionieren, ein Anhalten, das Stottern eines unzuverlässigen Motors, der läuft und wieder steht. Nur weiss man nie genau, wann er laufen wird und wann er wieder stoppt. Ich schaue ihm lange nach: Sein Gang ist heute Morgen recht zügig, doch geht er leicht vornübergebeugt am Stock, bedächtig.
Ich klage nicht über unser Geschick, ich habe mich nun vertrauensvoll auf diesen neuen Weg begeben. Mutig stehe ich morgens auf, schaue was es zu tun gibt, frage nicht nach dem Morgen. «Heute findet das Leben statt, genau jetzt», sage ich mir oft.
Mir wird bewusst, dass dies die Lebenskunst ist: Dem Jetzt zu begegnen mit all meiner Kraft, mein Denken auf den nächsten Schritt ausgerichtet, statt mich mit Sinnieren über die Zukunft zu ängstigen, mich damit zu beschweren. Heute. Jetzt. Wie kann ich das Morgen beeinflussen? Das will erst noch gelebt sein, mit seinem eigenen «Wetter»!
Was nützt mir ein Regenschirm heute, wenn es erst morgen regnet? Heute ist er nur unnötiger Ballast!
Paul ist zurückgekommen. Leicht verärgert, durcheinander. «Das cheibe Gschtürm …. dort … gehe ich nicht mehr …». Er kann nicht ausdrücken, was ihn derart verärgert hat. Ich will ihm helfen und erkundige mich bei den Betreuenden im Tagesheim.
Die freundlichen Grüsse an ihn bewirken Balsam, ich lerne sorgsam mit seinen Nöten umzugehen. Nun trocknet er das Geschirr ab und ist wieder zufrieden.
Und wie es mir geht? Habe vergessen, es zu melden: Besser. Der bellende Husten lässt nach, das Mittel zur Verflüssigung des Schleims auf den Bronchien scheint zu wirken, schliesslich salbe ich meine Brust auch fleissig ein. Ich bin eine kleine Stinkbombe geworden. Aber sehr müde bin ich, glücklich, mich ab und zu hinlegen zu dürfen.
Telefon mit meiner Spitex-Frau. Ja, sie sei gerne bereit, mit mir über meine Sorgen zu reden. Morgen Nachmittag wird Paul mit dem Fahrdienst zur Podologin in die Stadt gefahren. Ich lerne, Dienste anzunehmen. Und ein Tag mehr Ruhe tut gut. So kann ich morgen mit jemandem reden, der sich mit der Krankheit von Paul auskennt und auch mit den Fragen der Angehörigen vertraut ist. (Fortsetzung folgt … )