18. Dezember 2010 – Oh Gott, oh Gott
Ein Gebet, das intensivste aller Gebete, ein Hilfeschrei! Heute Morgen entfährt er mir wieder einmal. Wohin soll ich fliehen, mich verbergen, wer hört mir schon zu, wer versteht mich, wer hat Zeit für mich, wer tröstet mich? Mit wem kann ich mich aussprechen?
Paul hatte recht gute Tage, abgesehen von erneuten Versuchen, abends spazieren zu gehen. Mehrmals. Zuerst erwischte ich ihn, wie er Schuhe, Jacke und Mütze anzog. Das zweite Mal – wie raffiniert er manchmal sein kann – schlich er zur Tür und beschaute sich den vielen Schnee, der noch immer fällt.
Später öffnete er ganz leise die Tür, schaute zu mir herüber. Dann, als er sich unbeaufsichtigt glaubte, schlich er hinaus. Ich liess ihn eine Weile, dann ging ich ihm nach. Er stand vor der Werkstatt und ich rief nach ihm.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Schliesslich kam er zurück, als er einsah, dass es zu kalt war. Zudem hatte er ja die Werkstatt-Schlüssel nicht dabei. Unruhig kam er wieder zurück. Schliesslich fand er doch noch Interesse am Fernsehprogramm.
Den Nachrichten kann er nicht mehr folgen, da erfasst ihn Unruhe. Es geht ihm alles zu schnell und er ärgert sich darüber. Mir wird bewusst, was für ein Problem es ist, sich im Alltag zurechtzufinden. Wenn er schon meine «gefilterten» Aussagen kaum mehr versteht, wie sollte er die schnelle Folge der täglichen Nachrichten mitbekommen?
Meinem Bauch geht es besser, ich habe mich nicht überwinden können, zum Arzt zu gehen. Es wird schon wieder, tröste ich mich. Versuche mich auch vermehrt mit Xanax zu beruhigen. Ich habe doch recht unruhige Momente. Gestern kam der Organist, wir spielten zusammen.
Obwohl ich eine Woche nicht üben konnte, ging es leidlich. Es hat mich schon gefordert, ich war schrecklich aufgeregt. Aber ich hatte auch grosse Freude daran, denn nun konnte ich wieder die früher einmal eingeübten Cello-Sonaten spielen.
Ein anderer Druck ist die bevorstehende Besprechung mit der Frau von der Invalidenversicherung. Am Mittwoch folgt das Gespräch in der Memory Klinik.
Wie sagte Joyce Meyer: Frag nicht immer deine Gefühle. Auf die kannst du dich nicht verlassen. Entschliesse dich etwas zu tun, was getan werden muss, die Gefühle werden schon folgen…
Habe es ausprobiert und es funktioniert wirklich. Steh auf, handle. Mach dich auf. Lass dich nicht von deinen Gefühlen treiben. Doch ich weiss, es gibt Gruben, in denen du sitzt, die sind schon zu tief eingefallen, als dass man alleine wieder rauskommt. Ich möchte es nicht so weit kommen lassen.
Zum Glück erkenne ich die Warnsignale. Wenn ich morgens am Tisch sitze, den Kopf auf den Arm aufgestützt, leuchtet in mir die Alarmlampe. Aufstehen, nicht grübeln. Grübeln ist Gift. Nun heisst es etwas tun. Auch wenn es «nur» der Gang zum Notebook ist…
20. Dezember 2010 – Hilflosenentschädigung
Heute kommt eine Angestellte der Hilflosenentschädigung (s. unten) und will sich ein Bild über Pauls Zustand machen. Dazu meine Aktennotizen, die ich Ihnen nicht vorenthalten will.
Pauls Ist-Zustand:
- Er hat sehr starke Sprachstörungen, kann sich nicht mehr ausdrücken. Ich brauche viel Zeit, ihn einigermassen zu verstehen. Er läuft hinter mir her, versucht sich über alles zu orientieren, will alles wissen. Versteht es aber dann doch nicht.
- Wesensveränderung
- Nachtunruhen, überwache ihn nachts seit über einem Jahr
- Frühaufstehen
- regelmässige nächtliche Wanderungen, auch nach draussen. Verlässt die Wohnung mit oder ohne Jacke
- Ich muss den Schlüssel verstecken
Er braucht seit zwei Jahren Anleitung für die Körperpflege, das An- Auskleiden, jegliche Art der Beschäftigungen, das Schlafen gehen. Der Alltag ist dadurch sehr mühsam, herausfordernd, ermüdend.
Stürze
- September 2006 Sturz von der Leiter (Beckenbruch,Tiefenauspital)
- 2008 mit Häcksler gestürzt (seither Schulterprobleme)
- Diverse Stürze im Blumenbeet vor dem Haus (Blutungen wegen Rosensträuchern und Drahtgitter)
- Sturz von Haustüre auf den Vorplatz, drei Stufen hinunter (Schulter lädiert, starke Blutungen, Knieschmerzen)
- September 2009 Sturz aus Badewanne beim Duschen (Gehirnerschütterung, Nachtwandel, verwirrt)
- An der Kellertreppe die Lippen aufgeschlagen (Notfallarzt, starke Blutung)
Autofahren darf er seit zwei Jahren offiziell nicht mehr. Lange Autofahrten hat er schon 2006 an mich abgegeben, wegen Unsicherheiten. Im Uhrentest erreicht er 3 von 7 Punkten. Seit August 2006 braucht er ständige Begleitung – Arzt, Zahnarzt, Fusspflege, Inselspital, Memory Klinik etc.
Zusätzliche Kosten
- Tagesheim bis CHF 120 monatlich, zunehmend geplant sind mehrere Tage
- Fahrdienste
- Betreuungspersonen: etwa CHF 15 bis 20 pro Stunde (z.B. abends CHF 50)
- Ferienbett im April und Oktober, je drei Wochen eingeplant
22. Dezember 2010 – Gesundes Lachen
Zum Glück habe ich mich heute wieder einmal mit Carlo verabredet. Ein Gefühl, als ob man einem müden Schwimmer einen Rettungsring zuwirft und ihn ins Boot zieht.
Diesmal fühlte ich mich überhaupt nicht bedrängt von ihm, Carlo hat seine Gefühle in den Griff bekommen und wir können uns unbeschwert und fröhlich treffen. Das tut uns beiden gut. Sein fröhliches Lachen steckt an.
«Jetzt muss ich aber einen Schnaps haben». Ich meinte natürlich nicht Schnaps, sondern Rotwein.
Dann Mittagessen auswählen, mit Carlo ist das Leben unbeschwert, problemlos, fröhlich. «Du, weisst Du eigentlich, warum wir keinen Banküberfall planen?» Fragend schaute er mich an. «Weil wir nicht wüssten was mit dem Geld anfangen.» Gröhl.
Dass wir darüber lachen können ist Galgenhumor. Den haben wir beide. Seine Situation zuhause ist alles andere als rosig, aber eben, was solls, wie Teenager unbeschwert über alles Blödeln und andauernd Kichern … Oh, wie gut das tut!
In der Spielwarenabteilung eines Kaufhauses haben wir uns dann verabschiedet. Endlich durfte mich Carlo kurz umarmen. Kameradschaftlich.
22. Dezember 2010 – Tatsachen akzeptieren
Obwohl der leitende Arzt der Memory Klinik mir sehr freundlich und zuvorkommend gesinnt war und die Atmosphäre entspannt war, kamen mir dennoch Tränen. Es gibt keine Hilfe für Paul! Keine Therapie, auch nicht für eine Sprachförderung! Weitere Tests wären nur belastend für ihn, sie helfen nicht weiter.