28. Oktober 2010 – Riesenaufregung
Abends gegen zehn Uhr kommt Paul aufgeregt ins Zimmer, ich liege auf dem Bett und lese in Hans Küngs «Was ich glaube». Er sagt: «Es hat kein Licht in der Küche. Alles aus.»
Inmitten der ernsthaften Fragen über Wissen und Glauben und Religion will ich mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Eigentlich hätte ich aus Erfahrung wissen sollen, dass es nun definitiv aus ist mit der Ruhe, denn eines haben Demenzkranke an sich: Ausdauer, wenn sie einmal an etwas angedockt haben.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Nachdem er drei Mal hereingeschaut hat, stehe ich schliesslich doch auf. Inzwischen geht Paul mit der Taschenlampe in den Keller die Sicherungen besichtigen. Die sind intakt. Was soll ich tun? Andy anrufen, um diese Zeit? Er kann uns jetzt ohnehin nicht helfen.
Ich bin am überlegen. Möchte es. Aber gerade da ist der Haken. Das dauernde Lamentieren, Fragen stellen, was man denn tun könne, wie man nun vorgehen sollte, «schrecklich, keinen Strom zu haben», hindern mich am Nachdenken.
Ich muss wie auf zwei Schienen fahren, und das in verschiedenen Richtungen. Das ist mehr als Multitasking. Ich denke und muss zugleich Antworten auf gestellte Fragen geben. Also «Multithinking».
Dieses Wort gibt es gar nicht, denn kein Mensch kann zwei Themen gleichzeitig durchdenken. Oder präziser: Ich kann das nicht. (Ich will diese Fähigkeit einem Genie nicht absprechen.)
Wahrscheinlich ist dieses in Panik geraten und Herumkommandieren Teil seiner Krankheit. Und die begann schon vor dem Hirnschlag. Damals duckte ich mich jeweils, um aggressives Verhalten abzuwehren. Sich bewegen wie auf einem Minenfeld. Vorsichtig abtastend, immer auf der Hut, damit ja keine hochgeht. So beschrieb ich schon vor paar Jahren meinen Alltag mit Paul …
Inzwischen habe ich vieles gelernt. Ich kann mich abschotten, ich versuche ihm nicht mehr zuzuhören in Stresssituationen.
Könnte länger dauern. Also: Den Ersatztiefkühler im Keller anmachen und die Ware hinuntertragen, denn ich will oben weder ein Fussbad vor dem Kühler noch verdorbene Ware drin.
Plötzlich geht das Licht in der Küche wieder an, auch im Badezimmer, die Störung ist vorbei. Tiefgekühltes umsonst umgeladen. Na ja, es gibt Schlimmeres.
29. Oktober 2010 – Finsternis
Drei Uhr – ich erwache – es ist absolut finster im Schlafzimmer, so wie ich es mir eigentich wünschte. Ohne das orange Licht der Strassenbeleuchtung, das selbst unsere dicken, dunklen Vorhänge zu durchdringen vermag.