Manchmal kommt auch Freude auf - demenzjournal.com

Das Tagebuch (32)

Manchmal kommt auch Freude auf

«Die Ärztin hatte mal von den Aggressionen der Angehörigen gesprochen. Oh nein, niemals! Unmöglich, ich doch nicht... Wer kennt sich aus mit solchen Gefühlen?» Bild U Kehrli

Obwohl sie es besser weiss, fällt Frau Kehrli immer wieder darauf herein: Sie verliert die Contenance, in ihrem Innern brodelt es. Es quält sie die Einsicht, dass sie sich wohl nie an die Krankheit ihres Mannes gewöhnen wird. Zum Glück gibt es Lichtblicke.

24. Oktober 2010 – Sonntagsessen

Mit viel Liebe, Hingabe und Freude kochte ich heute: Kalbsbrustschnitten an Rahmsauce (mit Zwiebeln, Karotten, Lauch, Knochen), Rosenkohl, gebratene Spätzli. Ein megaschöner Teller! Wie im Restaurant. Und wie das schmeckte!

Mir zerlief das gut durchgegarte Fleisch auf der Zunge. Der Rosenkohl perfekt in Konsistenz, Geschmack und Farbe … Und Paul? Mürrischer Blick. Kein Wort. Er ass. Bemerkte, es seien zu wenig Spätzli. Dann zählte er die Rosenkohl-Köpfchen, wie viele er zugute hätte … Es blieben schliesslich noch Spätzchen übrig.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Dann, nach dem Essen, konnte ich mich kaum zurückhalten. Am liebsten hätte ich ihn geschüttelt. Überhaupt kein Wort, keine Reaktion? Ich wusch ab, Paul wollte Skirennen schauen. Da kam er und sortierte das noch nasse Geschirr andersrum zum Abtropfen, stellte das Besteck an einen andern Platz, die Pfannendeckel steckte er in den Rechen, und, und …

Ich kann nicht sagen, was da in meiner Seele abläuft. Die Wut packte mich. Ich stellte mich vor ihn hin, schrie in sein griesgrämiges, unzufriedenes, mürrisches Gesicht: «Ist das alles? Kein freundliches Wort, dass ich Dich mit so einem tollen Essen verwöhne? Keinen Dank, keine Anerkennung, keine Freude?»

Ehrlich gesagt, ich musste da an Carlo denken. Er hat niemand, der ihm so ein tolles Essen kocht. Er ist 89-jährig, zehn Jahre älter als Paul. Er ist Witwer und hat viele Jahre seine kranke Frau gepflegt.

Und Paul ist nicht einmal fähig, einen Gedanken von Dankbarkeit dafür zu mobilisieren, dass er meine ganze Liebe und Treue hat? Dafür, dass ich mit Liebe und Freude ein so wunderbares Sonntagsessen für ihn koche? Überhaut, jeden Tag gut für ihn koche, weil er doch so gerne isst! 

Das sind kritische Momente. Wer kann da einordnen, was in einer Seele abläuft? Ich fliehe in mein Zimmer. Bevor mit Frustworten, Vorwürfen und Wut erfüllt noch Gegenstände zu fliegen beginnen.

Die Ärztin hatte mal von den Aggressionen der Angehörigen gesprochen. Oh nein, niemals! Unmöglich, ich doch nicht… Wer kennt sich aus mit solchen Gefühlen?

Ich ziehe die Schuhe an und gehe in den Wald. Es regnet zwar leicht, doch habe ich die Mütze auf und keine Lust auf den Regenschirm. Mag es regnen. Mir egal! Wie es stärker wird, stelle ich mich unter eine Tanne. Bald lichten sich die Wolken, zwar nicht zu einem blauem Himmel, doch der Regen hört auf.

Ich geniesse die Einsamkeit im Wald, gehe meinen gewohnten Weg, kann mich gar auf eine Bank setzen, die von einer mächtigen Buche beschirmt wird. Wie wunderbar die Farben wirken im Grau des Tages. Noch sind nicht viele Blätter gefallen, doch bald wird es kälter. Morgen gibt es Schnee bis 600 Meter. Wir sind knapp darunter.

Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Wie ich nachhause komme, ist mein Ärger weg, zum Glück. Und Paul wird sich an nichts mehr erinnern. Wie sagte mein Vater kurz vor dem Tod: «Ich bedauere nur eines in meinem Leben, dass ich mit Mutter manchmal gestritten habe, oft wusste man zuletzt nicht einmal mehr, was der Auslöser war.»

Doch wenn man mitten drin steckt im zermürbenden Alltag, was nützen da Vorsätze? Die platzen wie ein überdehnter Ballon. Hauptsache, man verträgt sich wieder, vergibt und trägt nichts nach. Es wird, wie jeden Abend, den zärtlichen Gutenachtkuss geben, einen Moment des Händchenhaltens … und dennoch bin ich so dankbar, Paul noch bei mir zu haben!

26. Oktober 2010 – Herzschmerz

Wie sehne ich mich nach etwas Ruhe. Flüchte ins Musikzimmer, Kraft tanken mit Cello üben. Da kommt Paul sogleich irgendetwas rapportieren. Eigentlich geht es ihm ja ums Nähe suchen – die ich ihm aber gerade jetzt nicht geben mag, nicht schon wieder …

Nach dem Mittagessen liege ich auf meinem Bett, möchte ruhen, aber die Gedanken wirbeln herum wie die dürren Herbstblätter auf unserem Vorplatz.

Bei Biese sind wir hier der Sammelplatz der ganzen Dorfstrasse. Paul wischt zusammen, drei-, viermal am Tag. Gute Beschäftigungstherapie. So, wie das Puzzle: Wie strahlte er, als er nach langem Suchen das noch fehlende Teilchen für die Mitte des Flusses fand! Erfolgserlebnisse sind so wichtig.

Und wie geht es mir eigentlich? Ich leide an «Herzschmerz», müsste ich sagen. Ich lebe mit Dauerschmerzen, ja. Trauer darüber, dass ich Tag für Tag immer öfter diesen «Mann B» vor mir habe, Trauer darüber, wie mir Paul, «Mann A», mehr und mehr entgleitet. Es ist so kräfteraubend, die üblen Launen von «Mann B» ertragen zu müssen.

Es ist so anstrengend, die eigene Heiterkeit zu bewahren, es braucht viel Energie, mich nicht anstecken, herunterreissen, dämpfen zu lassen. Oft gelingt es mir nicht seine Launen aufzuhellen. Das gelingt eher fremderen Menschen.

Er strahlt die an, die selten kommen, die er aber gerne hat. Für ihn bin ich wohl nur ein Mittel zum Zweck geworden. Die, die kocht, die, die da ist für ihn. Wie ein Lehnstuhl, einfach ein Gebrauchsgegenstand, Inventar. Wie sehr sehne ich mich nach seinem freundlichen Angesicht, nach seinem Lächeln, nach seiner Liebe.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Auch an meinem Geburtstag gestern verbreitete er nicht ein Grad mehr Wärme. Wo bist du geblieben, mein Paul? Herzschmerz, Trauer, ja, ich bin oft traurig.

Ich gehe einkaufen. Bewegung ist besser als herumsinnieren. Der Himmel ist heute strahlend blau, ab und zu ein Wölklein. Die Biese bläst immer noch eisig, es ist dennoch recht angenehm, wenn man sich entsprechend kleidet. Paul sitzt wieder am Puzzle. Es fasziniert ihn sehr.

Morgen möchte ich Carlo wieder einmal sehen. Ich sehne mich nach ungefiltertem Plaudern, unbeschwertem Lachen, dem Austausch von Gedanken. Einfach ein Stück Normalität. Am Telefon schon: Erfrischendes Hallo, freundliche Worte, Zuspruch, Ermutigung, Fröhlichkeit, Lachen … 25 Minuten lang telefonieren wir.

Es geht ihm gut, er ist überglücklich, mich zu hören und will meinen Geburtstag noch nachfeiern. Das hat ihn schon gefuchst, dass er nicht daran gedacht hat. Er hätte mich doch so gerne verwöhnt. Wird nachgeholt, er freut sich mit mir, dass ich einen schönen Tag feiern konnte und viele liebe Besuche, Briefe und Telefonanrufe erhalten habe.

27. Oktober 2010 – Manchmal kommt dennoch Freude auf

Die Sonne scheint warm, ich muss raus. «Kommst du mit, Paul?» Immer wieder beugt er sich über das Puzzle, er hätte auch wieder einmal Bewegung nötig.

Er kommt zwar mit, aber motzt und jammert dabei. Und der kurze Spaziergang zur Bahnstation, zum neuen Lift auf die Brücke hinauf und zurück, etwa zwanzig Minuten, stellt mich auf eine harte Geduldsprobe, die ich nicht bestehe. Ich bin verstimmt.

Geht er alleine zur Station, ist sein Gang zügig, zielstrebig, flott. Läuft er mit mir, jammert, klagt, motzt er andauernd, geht zögerlich ein paar Schritte hinter mir und verstreut wieder seine miesepetrige Laune. Das ist mehr als eine Geduldsprobe.

Man könnte es mal andersrum ansehen:

Es ist eine Quälerei für mich. Meine gute Laune wird mit Vulkanstaub überzuckert, oder mit klebrigen Spinnweben überzogen, eklig. Ich möchte ihm davonlaufen.

Manchmal ist es zu viel. Dennoch, ich beherrsche mich. Wenn es auch brodelt in mir.

Nichts kann ihn vom Reklamieren ablenken, weder mein Hinweis auf die wunderbar farbigen Wälder in der Umgebung noch hat er ein Auge für die Fernsicht in Richtung des Jura. Man sieht Weissenstein, den Einschnitt nach Basel, dann den Geristein, den Bantiger, den Ulmizerberg, ich finde meine Freude zurück.

Dennoch. Gnade! Obenauf bleiben, nicht davonlaufen. Doch noch ein Sieg. Kaum zuhause, wir sind noch am Schuhe ausziehen, läutet es. Monika steht vor der Tür, unsere Monika! Wir bezeichnen sie als unsere «Adoptivtochter», so lieb ist sie uns. Mein Aufsteller. Während Paul mal wieder über seinem Puzzle brütet, tauschen wir Neuigkeiten aus, trinken Kaffee, essen den Kuchen von meiner Putzhilfe, den leicht verkohlten, dennoch schmeckt er.

Wie sie wieder wegfährt, ist auch mein ganzer Ärger wie weggeblasen. Ich bin so dankbar für Freunde, die mich stärken, ihre gute Ausstrahlung tut meiner verstaubten Seele wohl. Während Paul vor dem Fernseher sitzt und Zeitungen durchstöbert, setze ich ein paar Puzzleteilchen ein, damit er morgen zügiger vorankommt.

Bin weiter an Küngs Buch dran, begeistert, hungrig lechzend nach dem Woher – dem Wohin – dem Wozu – dem Wie – dem Was – dem Wo. Ich bin wirklich Büchersüchtig geworden. Ein gutes Zeichen, es geht etwas besser. Ich bin so froh, der Druck auf meinem Herzen hat etwas nachgelassen. (Fortsetzung folgt … )