4. Oktober 2010 – Im Dauertest
Die Sonne geht heute golden auf, ich habe schon die Betten abgezogen und die Wäsche ist in der Maschine. Wie verwöhnt wir Frauen heute sind mit dieser Arbeitserleichterung! Bin so dankbar dafür. Ich kenne noch die Strapazen eines Waschtages. Wie viel Kraft und Mühe hat meine Mutter das Waschen gekostet!
Heute mag ich endlich wieder Cello üben, meine geliebten Etüden spielen! Die Erkältung hat mich geschwächt, ich mochte eine Woche lang nicht die Treppen hochsteigen.
Paul macht sich unterdessen parat, um bei Doris einen Salat «einzutauschen». Er bringt ihr von unseren Birnen und die schönste, grösste Traube, die wir bisher gelesen haben.
Um vier fährt der Zug in die Stadt. Paul braucht Fusspflege, das Hühnerauge unter dem Fussballen muss geschnitten werden.
Er hat Mühe beim Gehen. Ich habe Mühe beim Mitgehen. Ihn im Trubel der Stadt zu begleiten ist eine neue Herausforderung.
Auch dafür habe ich einen Trick: Ich gehe einfach voran, dann folgt er mir und ich kann unnötige Diskussionen vermeiden. Wie ein Schneepflug bahne ich ihm den Weg durch die Menschenmenge.
Mag für andere nicht nett wirken, doch sollen sie ihn mal selbst begleiten. Wer hat schon eine Ahnung, wie eine Dauerbetreuung an den Nerven zehrt? Die ewigen Fragen, die Sturheit, all die Erklärungen, bis er endlich einlenkt?
Kaum waren wir am Bahnhof:
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
«Ich muss auf die Toilette.» «Du warst doch gerade auf der Toilette.» Der Zug kommt, er steigt ein, sieht das WC, gibt mir den Gehstock, «Ich gehe dennoch.» Da konnte man ja kaum stehen, beschwert er sich danach. «Und, hat es sich gelohnt?» «Nein, ich konnte fast nichts». Kann nicht schweigen: «Hab’s dir ja gesagt».
Das Schweigen und Schlucken muss ich immer noch lernen. Bin heute ohnehin nicht gut drauf. Schaue mir all die jungen Menschen an. Ihr habt ja keine Ahnung.
Was weiss man schon in jungen Jahren, wie beschwerlich das Alter sein kann und ihr beneidet uns um unsere «Freiheit», regt euch aber über uns auf, wenn wir in der Stosszeit unterwegs sind. Kann ich mir diesen Termin aussuchen? Möchte jetzt auch lieber zuhause sein.
Paul freut sich, wie Silvia seine Füsse mit viel Geschick und Feingefühl pflegt, er bedankt sich herzlich bei ihr, strahlt sie sogar an. Noch schnell Brot einkaufen.
An der Kasse will er einpacken, ist umständlich, langsam, klagt, das hat doch keinen Platz in der Tasche, kannst mir helfen, doch ich muss das Herausgeld entgegennehmen, das Portmonee verstauen, die nächsten drängen nach, halt mir mal den Gehstock sagt er, ich nehme ihm die Tasche weg, mache Platz.
Am Bahnhof – endlich – doch pünktlich sind alle Bänke besetzt. Alle sind müde vom langen Arbeitstag, wir lehnen uns an die Brüstung. Paul zweifelt wieder, wir müssen auf der anderen Seite warten, nein, der richtige Zug wird schon kommen, er will dennoch hinüber.
Da sieht er eine Nachbarin, sie strahlt glücklich, sonnengebräunt, allein schon ihre Gegenwart hellt meine Stimmung auf. Zwei Tage Urlaub vom Familienstress hat sie wieder durchatmen lassen, wie ich ihr das gönne!
Ich habe sie sehr lieb. Obwohl wir uns selten sehen, verstehen wir uns gut, ab und zu beten wir miteinander. Das verbindet.
Beim Nachhauseweg über die Rampe klagt Paul wieder, die Knie tun ihm weh. Michi und Tobias überholen uns. Wir sind zu langsam, geht nur vor, rufe ich ihnen zu. Da sehe ich die beiden ins Auto steigen.
Ach, wenn Paul doch mitfahren könnte! Michi merkt’s und wartet auf uns. Wie aufmerksam, das tut so gut! Unser Aufsteller heute!