Seelenruhe - demenzjournal.com

Das Tagebuch (22)

Seelenruhe

Der Sommer neigt sich langsam dem Ende zu und Frau Kehrli gelingt es endlich, ihren einzigen freien Tag zu geniessen. Sie findet nicht nur Ruhe im Gebet, auch das Musizieren und Malen geben ihr viel Zufriedenheit und Gelassenheit.

31. August 2010 – Aufschnaufen

Ein Moment der Ruhe, des Aufschnaufens, Paul ist ins Kirchenkaffee gegangen. Zwei, drei Mal musste ich ihn motivieren, damit er geht. Es tut ihm jedes Mal gut, er findet Menschen, die ihm zuhören, er kennt die Stammgäste und erhält Zuwendung.

Ein Anruf von Lena schon um halb neun Uhr. Nachdem wir heute eine halbe Stunde später aufgestanden sind, fühle ich mich gehetzt und mag einfach nicht «Unterhaltung» sein für Menschen, die nur reden wollen – vor allem über anderer Leute Probleme. Heute nicht. Ich lerne mich abzugrenzen, auch meine Bedürfnisse und Wünsche durchzugeben. Muss es lernen.

Ich bin so müde – nicht körperlich – nein, es ist meine Seele, die sich nach Ausspannen sehnt. Sie ist wie ausgelaugt, hat Sehnsucht nach Ruhe.

1. September 2010 – Ein freier Tag

Geliebter Sommer, es tut mir so leid. Ich habe dieses Jahr kaum Notiz von dir genommen. Schon ist der Herbst da – ich verabschiede mich von dir dennoch mit grossem Dank. Du bist meistens nur an mein Fenster getreten und hast leise gefleht, dass ich mit dir kommen soll.

Doch ich war oft zu müde, deinem verlockenden Ruf zu folgen. Du kamst so ungestüm, mein geliebter Sommer. Ach, wie liebe ich dich von ganzem Herzen. Deine Hitze jedoch, die du tagelang über uns hast brüten lassen, ermattete mich zu sehr. Ich lag lustlos im Zimmer herum, nicht mal deine erquickenden Morgen habe ich ausgekostet.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Und an den Abenden war ich auch zu müde, um mein Gärtchen zu geniessen. Was war nur mit mir los? Jetzt, wo du dich der südlichen Halbkugel zuwendest, wird mir erst so richtig bewusst, wie kostbar du bist, wie einmalig, wie ich jede Minute von dir hätte geniessen sollen.

Vor allem beim Gedanken, dass ich dich nicht mehr oft begrüssen werde. Wer weiss, wie oft ich noch die Sonnenaufgänge bewundern kann?

Im Vorgärtchen hat es neben den letzten paar Rosen ein paar Cosmeen die selber aus Samen vom letzten Sommerfloor sprossen, dazwischen viel Unkraut. Paul mag nicht mehr jäten. Es hat auch Astern, Ringelblumen und eine rote Stockrose, die sich hoch in den Pflaumenbaum hinauf rankt.

Die verblühten Rosen werden nicht mehr abgeschnitten, die verwelkten Blumen schauen mich traurig an. Ach, ich kann mir nicht noch mehr aufhalsen. Ein, zwei Mal hatte ich gejätet, die Rosen geschnitten, doch meistens vergesse ich es. So auch die beiden Gräber meiner Eltern. Im Frühjahr hatte ich noch Blumen gepflanzt, inzwischen ist alles verwelkt, ein trauriger Anblick.

Doch tut dies all meiner Liebe zu ihnen, meinen Erinnerungen, meiner Sehnsucht einen Abbruch? Und was die Leute sagen kümmert mich nicht. Interessiert es sie, dass mein Herz so oft wund ist? Dieses Gefühl einer totalen Überforderung würde man im Berufsleben wohl Burnout nennen.

Soeben höre ich den Schlager von Peter Reber: «Jede bruucht sy Insel …». Heute habe ich meine kleine Insel, zwar bloss für ein paar Stunden und dennoch: Endlich einmal etwas Zeit ohne den «Antreiber», ich kann mich einfach treiben lassen.

Zuerst eine Hürde: Wie mache ich Paul schmackhaft, dass ich ihn nicht mehr abholen werde?

Wie mache ich ihm klar, dass ich für ihn ein «Taxi» (Rot Kreuz-Fahrdienst) organisiert habe, um etwas mehr Freiraum zu gewinnen?

Auch das war ein Treiber, gegen drei Uhr wurde ich jeweils unruhig. War ich in der Stadt, musste ich pünktlich mit dem Zug nach Hause fahren, um Paul dann mit dem Auto abzuholen. Oder auf einem Spaziergang war die Uhr stets bestimmend.

Stabelle.Bild U.Kehrli

Es ist nur ein kurzer Freiraum von halb neun bis halb vier Uhr. Nun kann ich aufatmen. Er hat die bittere Pille geschluckt, wenn auch ungern.

Vormittags überwand ich mich und begann mit dem Bemalen der zweiten Stabelle. Also, ein wirksames Mittel gegen die Erledigungsblockade ist, sich einfach einen Tag, eine Zeit zu bestimmen (wie eine Verabredung beim Arzt), und die dann auch einhalten.

So machte ich mich heute an die Arbeit, und siehe da: Schon ist die Grundierung gemacht, die Schwierigkeit mit dem grossen T habe ich überwunden, die Skizze zum Namenszug ist fast fertig, dann muss ich mich noch für die Vögelchen entscheiden.

Habe ich einmal angefangen, geht es wie von selbst. Und es macht mir eine Riesenfreude. Nach all den Jahren Erfahrung geht mir alles leicht von der Hand. Das Farbenmischen ist kein Problem mehr, die Pinselführung ist sicher, auch das Selbstvertrauen ist gewachsen.

Mit viel Freude male ich. Im Hintergrund höre ich leise Lieder, die mich erquicken. Zum Mittagessen ein kleiner Snack zuhause, gegen zwei Uhr treffe ich dann Carlo im Café.

Es ist so traurig zu sehen, wie er vereinsamt. Er möchte gerne öfter mit mir zusammen sein. Auch da muss ich mich abgrenzen.

Es braucht viel Weisheit im Umgang mit alten Menschen. Auch bei Hedi gibt es ähnliche Probleme. Zu schnell werden Hoffnungen geweckt und ich darf mich nicht noch mehr verausgaben.

Zurzeit ertrage ich überhaupt keinen Druck mehr. Doch immer wieder fülle ich meine Agenda mit Terminen, die mir eigentlich Freude machen, mich dann aber doch belasten.

Gestern Abend zum Lobpreis kam ich total erschöpft an. Dann staunte ich, wie viel Kraft mir zufloss. Wir spielten über eine Stunde zusammen – es kam mir vor wie 20 Minuten.

Ursula Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

5. September 2010 – Eine Umarmung

Gestern Abend traf sich die Gruppe Chrattiger Bänd zum Lobpreis und danach zum Nachtessen. Lange wusste ich nicht, ob Paul in der Lage war, mitzukommen. War es für ihn zumutbar, oder würde er überfordert sein?

Doch er wollte unbedingt mit uns kommen. Er liebt unsere Musik sehr. Alles ging gut, doch dann wurde die Wartezeit für unser Essen – fast eine Stunde – für ihn zu lang. Zur Vorspeise gab es für uns zwar einen Salat, doch dann hatten vier von uns das Vergnügen zuzuschauen, wie die andern am Tisch sich durch drei Vorspeisen schwelgten.

Es war ihnen letztlich fast peinlich, dass wir auf sie warten mussten. Echte Panne beim Planen. Paul, durch den Hirnschlag gewisser Hemmschwellen enthoben, protestierte lautstark und eigentlich hatte er Recht.

Doch dann kippte seine Stimmung vollends und er wollte nach dem Essen sofort nach Hause. Ich war auch gestresst und verabschiedete mich schnell. Doch Thomas nahm sich mehr Zeit für den Abschied. Er umarmte mich und flüsterte mir ins Ohr: «Weisst du, wir haben dich alle ganz, ganz fest lieb».

Auch seine Frau Barbara und Charlotte erquickten mich mit warmen Worten. Die Tröstungen taten mir gut. Während der Fahrt fühlte ich mich gestärkt, auch zu Hause verliess mich dieser Trost nicht. Selbst am nächsten Morgen waren diese Wärme und der Friede noch da.

8. September 2010 – Innehalten und hinhören

Wieder Mittwoch. Meine Insel. Langsam lerne ich, diesen feien Tag, an dem Paul im Tagesheim ist, zu geniessen. Ich bin am Malen des zweiten Stabellenstuhls, habe grosse Freude am Gelingen der Schrift. Mit Gelassenheit male ich den kleinen Zaunkönig und geniesse das Hier und Jetzt.

Zufriedenheit! Habe ich nicht heute als erstes im «Prediger» vom weisen Salomon gelesen, dass einzig die Freude sich lohnt im Leben? Sich freuen am Jetzt, an jedem Moment, freuen am Essen und Trinken, ohne  über das Gestern und Morgen nachzudenken.

Was können wir schon ändern am Vergangenen, am Zukünftigen? Unser Tod ist unabänderlich und gewiss.

Hören auf die innere Stimme. Was ist heute dran? Es kommt mir vor wie die Arbeit mit meinen verschiedenen Pinseln. Es hat sich bei mir über all die Jahre eine rechte Anzahl Pinsel angesammelt.

Für den Schnabel braucht es besonders feine Pinsel.Bild U.Kehrli

Ich ergreife einen, um die Augen des kleinen Vogels zu malen. Erst probiere ich die einzelnen feinen Pinsel aus. Da gibt es widerspenstige, die sich vorzüglich eignen um die Farbe zu verstreichen. Mit fast trockenen Haaren kann ich mit ihnen die Farbe verteilen, Flächen ausfüllen, so dass es transparent bleibt, das Holz darf durchaus etwas durchschimmern.

Dann suche ich einen Pinsel aus, der ganz feine Haare hat und eine sehr gute Spitze. Der Schnabel des Zaunkönigs ist klein und sehr fein auslaufend. Da braucht es wiederum das geeignete Spitzchen.

Ähnlich kann uns Gott gebrauchen. Er setzt seine Diener ein für spezielle Aufgaben, so ähnlich, wie ich die Pinsel auswähle. Er kennt die Stärken eines Menschen. Auch die «borstigen» kann er gebrauchen, jedes an seinem Plätzchen. Für jeden seiner Diener gibt es Einsatzmöglichkeiten.

Es macht mich manchmal traurig, dass ich so sehr aufatme, wenn Paul aus dem Haus ist.

Käthi ist nun allein und sie leidet darunter. Unter der Leere. Das mahnt mich immer wieder zur Dankbarkeit.

Ich bin dankbar, dass ich Paul habe. Es gibt doch noch so viele Stunden, in denen wir es gut haben zusammen. Trotz allem.

Es ist vier Uhr. Und Paul ist schon seit einer Stunde zuhause. Warum die immer so früh Schluss machen müssen, es wäre doch bis vier Uhr vorgesehen? Ich war oben in meinem Zimmer am Malen. Dann hörte ich ein Auto vorfahren. Bald darauf kam er nach oben, war missmutig.

Er hätte sich über «die» geärgert. Was los war, konnte er nicht sagen. Mürrisch sein Gesicht, doch dann strahlte er, als er mein Stühlchen sah. Wie immer nimmt er mit Freude und Anerkennung Anteil an meiner Malerei. (Fortsetzung folgt …)

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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