«Ich darf mich auch mal selbst bemitleiden» - demenzjournal.com

Das Tagebuch (20)

«Ich darf mich auch mal selbst bemitleiden»

... wenn die Welt Kopf steht ... UKehrli

Frau Kehrli gelingt es immer wieder, den Fokus auf die eigenen Bedürfnisse zu richten. Selbstreflexion und tiefer Glaube, soziales Engagement und die Freude an der Musik helfen ihr über manches hinweg. Dennoch sehnt sie sich nach Ruhe, nichts als Ruhe.

15. August 2010 – Eingeladen

Balsam! Eine Einladung von Christine und Mark zum Mittagessen am Sonntag. Auch Paul strahlt, es gefällt ihm nach dem Essen noch ein Spielchen zu machen.

Mir fällt auf, dass er sich im Gespräch von einem Thema länger nicht lösen kann. Während wir schon beim übernächsten Thema angelangt sind, kommt Paul immer noch mit Beiträgen zu vorhin.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Zum Glück kann ich ihn immer wieder abfangen und Christine und Mark schalten sogleich auf sein Thema um. So kommt sich Paul nicht völlig daneben vor und fühlt sich als Teil unserer fröhlichen Runde.

Mir tut so gut, dass ich wieder einmal meine Gedanken sprudeln lassen kann und ich merke, dass mir ein Gegenüber auf Augenhöhe im Alltag sehr fehlt. Dieses Austauschen, das muntere Gespräch, ohne vorher alles filtern und bewusst einfache Sätze formulieren zu müssen.

22. August 2010 – Die 500. Puppe!

Ein denkwürdiger Tag mit dieser 500. Puppe für Moldawiens Waisenkinder. Obwohl Sonntag ist – oh Herr, erbarm’ Dich meiner ungehorsamen Seele! – ich konnte es einfach nicht lassen heute Vormittag noch ein paar Puppen einzukleiden. (Ich wollte doch endlich mein Zimmer aufgeräumt haben …)

Doch der Frieden war weg, ich war hässig. Ruhen wäre jetzt dran gewesen, um meine Batterien aufzuladen, statt von einer Ecke in die andere zu eilen, Kleidchen aussuchen, Puppen aus- und anziehen. Schliesslich wollte mir gar nichts mehr gelingen.

Mittags dann ein neues Desaster. Wieder einmal konnte sich Paul recht gut ausdrücken.

Und ich machte Fehler über Fehler. Ich liess mich wieder einmal zu einem Streitgespräch hinreissen.

Er habe nie Geld, würde knapp gehalten und müsse um jeden Franken betteln, sagte er. Und er werde kontrolliert. Als er «Ostermundigen» erwähnte, wurde mir klar: Er lebt in der Vergangenheit. Das fällt auf, wenn er fragt wie viele wir am Tisch und wo die andern seien.

500 Puppen für Moldawien.Bild UKehrli

Und am Nachmittag im Pflegeheim, als wir Hedi besuchten, sagte er, dass er sonst immer mit Ursula käme. Wieder machte ich den Fehler, ihn zu korrigieren. Dass ich Ursula sei und nicht seine Tante oder Mutter, wie er behauptete. Frust in mir, warum kann ich nicht «validieren» oder einfach nur schweigen.

Es ist nicht mein Tag heute. Dann kam noch die Absage, es hätte keinen Platz mehr beim Senioren-Ausflug. Wie schön wäre es, sich einmal herumführen zu lassen, nicht dauernd für zwei denken zu müssen. Und nun wird nichts mit der 3-Seen-Fahrt mit den Senioren!

Es ist mir alles zuwider, ich habe alles satt und hänge lustlos herum. Nichts freut mich und ich versuche auf dem Notebook mir meinen Frust von der Seele zu schreiben. Ein Lichtblick wenigstens: die Herausforderungen des neuen 2010er Word.

Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Nicht einmal der von Carlo in Aussicht gestellte Treff kann mich erwärmen. Ja, er mag mich sehr, ich ihn ja auch, aber mit seinen 88 Jahren lässt er sich gerne von mir führen und leiten – genau das habe ich ja über. Ich möchte mich einfach einmal ausführen und verwöhnen lassen.

Mir scheint, auch Carlo leide zusehends an einer Demenz. Er erzählt mir dasselbe mehrmals und ist sehr langsam geworden. Sprudelnde Gespräche wie früher sind kaum mehr möglich.

Irgendwie gefällt es mir heute, mich in meinen Problemen zu suhlen und im Selbstmitleid zu wälzen.

Doof, echt. Ich wüsste es ja besser, müsste mich nur entscheiden damit aufzuhören. Müsste. Hab’ auch dazu keine Lust. Ich darf mich doch auch einmal selbst bemitleiden.

23. August 2010 – Montagmorgen

Bessere Laune heute Morgen? Ja, ich entscheide mich dankbar zu sein und mir fallen viele Gründe dafür ein. So, dass ein Lied im Herz erklingt: «Herr, Du bist mein Hirt’, mir fehlt nichts bei Dir .. .»

Ein Lied, das ich schon viele Jahre kenne und gerne mit dem Akkordeon begleite. Es wird wohl bald zum (Mut machenden) Ohrwurm. Beim Zähneputzen schaut mich im Spiegel ein strahlendes Gesicht an: «Guten Morgen Ursula, ich mag dich.» 

Wie sollte ich meine Nächsten lieben können, wenn ich mich selbst nicht mag? Mit Schwung und Freude gehe ich in die Waschküche, summe das Lied vor mich hin und geniesse das Jetzt. Was soll ich mich über gestern grämen, was soll ich mich um das Kommende sorgen? Jetzt. Sein. Geniessen, ein guter Entscheid.

«Die meisten Puppen kann ich retten, sie waschen, neue Perücken annähen, neu einkleiden.»Bild UKehrli

Früh schon gehe ich zum Lagerhaus für die Hilfsgüter Moldawiens, denke dabei an Margret und Peter, die zurzeit mit einem Transport dorthin unterwegs sind, schaue mir all die Puppen an, die auf den nächsten warten.

Im Lagerhaus hat es wieder Puppen, die abgegeben wurden. Ach, das soll «gut genug» sein für die Waisenkinder?! Klebrig «patinierte» Gesichter, Perücken aus sich zersetzendem Fell, von Schaben zerfressene Kleidchen?

Wie gut, dass mir das Herrichten grosse Freude bereitet. Die meisten Puppen kann ich retten, sie waschen, neue Perücken annähen, neu einkleiden. Erst wenn ich sie an mich drücken und liebkosen kann, sind sie «gut genug». Und voll Liebe.

Ein neuer Aufsteller: Fritz hat telefoniert, zwei Senioren haben abgesagt. Paul und ich dürfen mitfahren! Juhui! Und bald kommt meine Putzhilfe: Betten neu beziehen, Staubsaugen. Bin ich froh, Entlastung zu haben. Anita versteht sich gut mit Paul. Und er sich mit ihr …

24. August 2010 – Chaotisch

Wie im Dschungel verloren, ohne Weg und Durchblick. So beginne ich den Tag im Chaos meiner Gedanken: Zu viele Aufgaben, und Paul immer wieder mit Fragen hinter mir her. Das ist mein Problem. Ich habe nicht einmal mal meine Gedanken für mich selbst. Auch da dringt er ein. Wie Wasser, das überall eindringt, überfluten seine Anliegen all mein Sein und Tun.

Ich möchte eine Liste erstellen, was heute zu erledigen ist. Kaum bei Punkt zwei angelangt, kommt Paul in mein Zimmer: «Ich muss auf die Toilette.» Wofür brauch’ ich das zu wissen? Alles was er tut, denkt und machen will kommt er mir rapportieren. Ärgerlich wende ich mich wieder meiner Liste zu. Wo war ich geblieben?

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

Jetzt spenden

Wie wünschte ich mir einmal Ruhe, einfach nur Ruhe!! Ungestört sein, nicht bloss die paar Stunden, wenn Paul im Tagesheim ist. Ich weiss es ja, Paul empfindet nun ähnlich wie die kleine Lena der Nachbarin. Er sehnt sich nach Geborgenheit, sucht meine Nähe. Er fühlt sich verloren ohne mich. Er versucht sich an mich zu hängen. Und ich kann ihm dies nicht ständig – vielleicht noch nicht? – geben.

Ich versuche, nicht mit ihm zusammen unterzugehen. Ich möchte überleben, um ihm noch lange eine Stütze sein zu können.

Anderseits erbarmt er mich und ich möchte ihm helfen. Ich fühle mich damit recht alleine gelassen.

Es gibt nur wenige Menschen, die Pauls Zustand richtig erfassen und sich in ihn hineinfühlen können. Christine und Mark ist dies gut gelungen. Auch Vreni hat dieses echte Mitgefühl. Andere Freunde wiederum belächeln seine Verwirrtheit und finden es amüsant. Oder sie stehen dieser neuen Situation hilflos gegenüber und ziehen sich zurück.

Hans hat anerboten, Paul mit den Stangenbohnen zu helfen. Zum Glück lässt sich Paul neuerdings helfen, er selbst darf nicht mehr auf die Leiter steigen, es ist zu gefährlich. Er ist so steif und ungelenk geworden.

Wenn ich ihm zusehe, wie er sich mühsam aufs Sofa setzt, er, der ehemalige Kunstturner! Sein ganzer Körper ist unbeweglich geworden, welch entsetzliches Bild des Zerfalls. Wie weh das tut!

Susanne wartet auf die bemalte Kinderstabelle. Die zweite, mit Bauernmalerei für Silvia, muss ich erst noch entwerfen und zeichnen. Malen macht mir zwar viel Freude, doch der Druck aller Verpflichtungen ist zu belastend geworden.

Donnerstagbend: Probe für den Lobpreisabend. Eigentlich sollte ich wissen, dass zwei Anlässe am selben Tag zu viel sind für mich. Das wird mir jeweils erst bewusst, wenn ich kurz vor den Terminen stehe und nicht mehr absagen kann. Anderseits tun mir die Kontakte gut, Musik ist für mich auch Auftanken.

Zahlungen, Steuererklärung und Unterlagen bereitstellen für die Beratung. Ich komme mir vor wie im Dickicht. Was machen? Die Liste wird immer länger, der Druck enorm. Hilfeschrei zu Gott.

Ich schnüre nun mal das Paket der Sorgen und werfe es zu Dir hinauf! Du hast uns dazu eingeladen. Du hast gesagt, dass wir alle unsere Sorgen und Lasten auf Dich werfen sollen.

Also, hier ist mein Sorgenpaket. Nun hast DU das Problem damit. Du kennst die Lösungen, Du weisst alles. Für Dich ist es eben kein Problem zu helfen.

Sollen wir nicht auch wie Kinder werden, die dem Vater alles zutrauen, die wissen, er kann alles, er hat nur das Beste für mich im Plan, er ist mir Hilfe und Stütze?

Mir ist leichter ums Herz. Ich bin gewiss, heute Abend kann ich wieder sehen wie gut ich durchgetragen worden bin. Dennoch. (Fortsetzung folgt … )