Würde des Menschen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (19)

Würde des Menschen

«Wenn nichts mehr geht, dann geh'», ein Slogan, der zu meinem Überlebens-Kit gehört. UKehrli

Das Restchen Vitalität, das Frau Kehrli geblieben ist, wird jeden Morgen vom Alltag eingebremst. Obwohl ihre depressiven Stimmungen häufiger werden, will sie sich keinesfalls gehen lassen und findet immer wieder Freude im Kleinsten.

8. August 2010 – Abreise. Stress pur für Paul

Bild: Paul und ich im Flugzeug, ich habe schon seit geraumer Zeit die Führung übernehmen müssen, die Rollen sind nun vertauscht. Doch er sitzt ebenfalls an den Instrumenten, hinter mir, und funkt mir immer drein. Dann muss ich ausbügeln. Bin auf das Flug-Ziel und die Instrumentenbedienung konzentriert, gleichzeitig muss ich sein Dreinfunken ausbügeln.

Die Heimreise von den Ferien verlief harmonisch, auch das Ausladen, Auspacken alles ging gut. Bis … ja eben, ein völliges Desaster geschah. Dass er verwirrt war je näher wir Bern kamen, konnte ich noch recht gut wegstecken.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Geduldig erklärte ich ihm, dass wir nicht nach Ostermundigen fahren. Es gäbe auch keine andern Kollegen, dass wir allein seien und ich seine Frau sei. Er betrachtete mich als irgendeine, die ihn nun eben nach Hause bringen müsste. Schliesslich erkannte er unser Dorf, die Strasse und das Haus. Aufatmen!

Doch als er seine Medikamente auspackte, war er wie verwandelt. Total entnervt und gestresst fummelte er an den Kästchen herum, kam zu mir, redete auf mich ein, ich verstand nichts. Ich war müde nach der Reise, auch etwas nervös.

Musste einen Zvieri vorbereiten für die Nachbarn. Sie wollten die Bohnen bringen, die sie für uns geerntet hatten. Dazwischen Paul mit seinen vielen Fragen. Langsam verlor ich die Geduld, der ganze Frust des Angebundenseins in den Ferien, das ewige Rücksicht nehmen müssen. Der Verzicht auf eigene Freizeit, die Trauer, der Schmerz, alles kam in mir hoch und ich brüllte ihn wieder einmal an. Und erneut Bauchkrämpfe!

Als die Nachbarn kamen, bestürmte Paul sie mit seinem Medikamentenproblem. Der Nachbar amüsierte sich über die Aufregung von Paul, winkte mir belustigt zu.

Das tut so weh, wenn man über diesen traurigen Zustand eines dementen Menschen lacht und alles ins Lächerliche zieht was er redet oder tut.

Damit habe ich grosse Mühe. Das ist genau das wegen der Würde des Menschen. Wenn ein Mensch zum Gespött wird, wenn man über ihn lacht, ist seine Würde verletzt.

Ich kann noch nicht formulieren, was ich empfinde dabei. Paul ist für mich, auch wenn mich sein Zustand bis aufs Äusserste reizt, ein vollwertiger Mensch, ich würde ihn nie verspotten, belächeln oder als minderwertig ansehen.

Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Doch spüre ich nun täglich meine Grenzen. Schon zeichnet sich eine Müdigkeit ab und ich verliere die Beherrschung. Das habe ich vorhin wieder schmerzlich erleben müssen. Ihn anzubrüllen, das bin doch nicht ich! Das tut mir so leid!

Es geschieht einfach mit mir, ich kann es nicht verhindern oder bremsen. Es kommt mir jetzt im Rückblick vor wie ein Dammbruch. Wenn der Damm schon mit Wasser durchtränkt ist hält er dem Druck nicht mehr stand. Ich musste erkennen: Bei mir ist der Damm bereits sehr aufgeweicht.

9. August 2010 – Erster Tag daheim

Gute Nacht, gut geschlafen, Paul morgens OK im Bett, Grund zur Dankbarkeit. Zuhause sein ist gut, etwas erleben ausserhalb war auch schön, wenn auch herausfordernd.

Fasse ich die neun Tage Ferien zusammen, gab es doch auch schöne, erholsame Momente. Zwei Ausflüge auf dem Ägerisee, dann vom Vierwaldstättersee aufs Rütli – und auch kleinere Spaziergänge mit Paul.

Ich muss lernen, dass dieses «sich dauernd nur noch um sich selbst drehen» zum Krankheitsbild gehört.

Wie hat er sich auch da verändert!

Heute Morgen konnte ich Paul richtig überlisten: Zu den Stangenbohnen gäbe es entweder zwei Hackplätzli oder er müsse im Coop Speck holen. Ich war am Waschen, musste die Buchhaltung erledigen. Ha, mit Speck fängt man Mäuse!

Erst wusste er nicht, wo der Coop sei, bis ich ihm vor dem Haus den Weg zeigte. Da marschierte er los und in Rekordzeit war er wieder da mit einem wunderbaren Stück Speck. Danach mochte er gar noch jäten! Es kommt wirklich auf die Motivation an. Speck sei Dank. Den genossen wir dann mittags und ich ass viel zu viel!

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

Jetzt spenden

Endlich wieder mal Cello spielen. Zwei Wochen ohne Üben, da muss ich mich wieder einarbeiten, zum Teil auch überwinden. Doch die Freude kommt durchs regelmässige Spielen.

Am Donnerstag wird Andy auch meinen Laptop aufs 2010 Office umrüsten. Ich bin so dankbar, dass mein Sohn mir gerne hilft und freue mich darauf, wieder Neues zu lernen.

Nach dem Nachtessen bin ich in meinem Zimmer, das Notebook auf den Knien. Ich mag nicht in den Garten, mag nicht in den Wald gehen, ich meide Menschen. Tönt nach depressiver Verstimmung. Obwohl ich die Wäsche sofort glättete und wegräumte, das Nachtessen bereitete, Schreibarbeiten erledigte.

Ich bin so müde, dass mich nicht mal ein Spaziergang lockt. Eine lähmende Traurigkeit erfüllt mein Herz.

Vorhin versuchte Paul mir etwas zu sagen, schüttelte verzweifelt den Kopf: «Ich vergesse alles». Ich nahm ihn in die Arme. Beide kämpften wir mit den Tränen.

Für übermorgen Mittwoch könnte ich etwas planen, ganztags. Doch nichts vermag mich zu locken. In die Berge fahren? Baden? Wandern in der Umgebung, der Aare entlang? Essen gehen mit Carlo? Vielleicht verkrieche ich mich wieder unter die Bettdecke.

10. August 2010 – Datensalat

«Heute ist Kehrichtabfuhr», mein Handy erinnert mich dienstags daran. Weil Paul seit einiger Zeit Probleme mit den Terminen hat, verwalte ich die Daten selbst. Er hat sogar seinen eigenen Geburtstag vergessen, und von meinem oder unserem Hochzeitstag seit langem keine Ahnung mehr..

«Ich gehe …, ob die andern … den Kehricht haben», er geht auf die Strasse nachschauen. «Ja, es hat Kehricht, bin nicht sicher».

Er geht in die Werkstatt den Abfuhr-Merkzettel holen und behauptet, es sei erst morgen soweit. Eine wiederkehrende, nur allzu bekannte, nervtötende Diskussion würde gleich beginnen. Nun will er mir erklären, dass es wirklich erst morgen sei, sein Finger zeigt aber auf die Daten der Sperrgutabfuhr, und erst noch in einem anderen Bezirk.

Das weitere kenne ich. Endloses Nachfragen, Erklären, und er hat mich mitten in Buchhaltungsarbeiten gestört. Das nervt mich ohnehin, bringt mich aus dem Konzept. Ich überlasse ihn seinem Kehrichtblatt, soll er selbst stürmen, und gehe wieder in mein Zimmer zurück. Ich muss mich abkapseln, mich schonen, sonst ist alles noch unerträglicher.

10. August 2010 – Kleine Freuden

Gestern Abend Probe mit dem Lobpreisteam. Früher mein Liebstes, gestern aber schleppte ich mich mühsam hin wie ein uraltes Grosi, spielte lustlos. Kaum war die Probe zu Ende, ging ich sofort nachhause. Aufatmen, Paul war vor dem Fernseher eingeschlafen.

Heute: Aufregung bis Paul endlich ins Tagesheim ging. Total unter Stress meinte er, viel zu spät dran zu sein. Der Kaffeelöffel flog weg, er regte sich zusehends auf. Schnell ein Rivotril, es geht vorbei, alles OK.

Anfall abgewehrt. Endlich. Ade sagen, Aufatmen, mich zurücklehnen. Erst in diesem Moment realisiere ich, wie gross der tägliche Druck auf mir lastet im Alltag. Ich stehe ständig unter Strom, keine Ruhe, immer auf Draht. Angespannt.

Dennoch, ich raffe mich auf, spiele auf der Flöte das neue Lied, das wir gestern gelernt haben. Etwas tun. Mich nicht gehen lassen. Ich nehme mir vor, mich nie mehr in eine Depression absinken zu lassen! Man muss sich ja dann doch wieder selbst hocharbeiten.

Vorzeichen erkennen und handeln. Zum Glück kann ich (noch) frühzeitig Gegensteuer geben.

Wieder eine Freude! Vor dem Haus blüht mein alter Kaktus mit vier weissen Blumen. Ich zeige sie Simon, dem Nachbarn, der unterwegs zur Schule ist. Auch er freut sich über die wunderbaren Blumen, staunt, dass sie nur zwei Tage blühen.

Gebet, Bibellese, Stille, Ruhe geniessen. Vorsätze: Pult aufräumen, Papiere Ordnen, Unterlagen für die Steuererklärung bereit machen. Ausfüllen Online soweit ich es selbst kann. Mittagessen? Ach, Milch und paar Flocken. Kochen wäre heute eine Zeitverschwendung!

Und schon ist es bald wieder Zeit, Paul vom Tagesheim abzuholen. Mich ärgert es, dass dort schon nach drei Uhr Aufbruch ist. Vorgesehen wäre Betreuung bis vier Uhr! Das letzte Mal hatten sie Paul schon mit dem Bus nachhause gebracht, als ich ihn im Heim abholen wollte.

Trotz Müdigkeit mache ich mich auf in den Wald. «Wenn nichts mehr geht, dann geh’», ein Slogan, der zu meinem Überlebens-Kit gehört. Schon wieder ein Aufsteller: Eine kleine Maus rennt über den Weg.

«Oh, hast du Glück, dass ich keine Katze bin!», hat sie sich sicher ins Mäuse-Fäustchen gelacht. Eine Maus, jeder braucht sie täglich, auch ich liebe meine Computermaus.

Noch eine Freude: Ich kenne ein paar Plätze für Pilze. Finde etliche, es reicht fürs Nachtessen: Mais und Pilze. Herrlich! Kleine Freuden! Sie zu sehen bringt wieder etwas Kraft. Bin dankbar dafür, dass ich sie noch sehen kann. (Fortsetzung folgt …)