Verloren, verlassen, verunsichert - demenzjournal.com

Das Tagebuch (18)

Verloren, verlassen, verunsichert

«Ohne mich wäre Paul nun total verloren. Er würde weder den Eingang ins Bad, noch den Weg auf die Toilette oder zur Dusche finden.» UKehrli

Die Ferien neigen sich dem Ende zu. Frau Kehrli muss sich fragen, ob es sich überhaupt gelohnt hat, mit Paul wegzufahren. Sie hat sich in diesen Tagen kaum erholt. Im Gegenteil.

3. August 2010 – Endlich wieder geschlafen

Halleluja! Unser Gebet wurde erhört! Im Glauben habe ich Ohropax gestöpselt und darauf vertraut, dass Paul ruhig bleibt. Alles gut gegangen! Oh, welche Freude, welche Dankbarkeit! Wie ganz anders fühle ich mich heute Morgen, ausgeschlafen, keine Stress keine Störungen. Bin wie neu geboren … erfrischt, neu ermutigt und fröhlich.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Telefon von Carlo auf mein Handy. Der versetzt mich immer wieder in Erstaunen mit seinen 88 Jahren. Hat er sich doch meine Handynummer gemerkt! Wieder einmal ein normales Gespräch, jemand, der sich nach mir, nach meinem Befinden erkundigt. Seine Zuneigung tut meinem Herzen gut.

Paul dreht sich seit Monaten nur noch um sich selbst, ist gefangen in sich selbst, er nimmt mich überhaupt nicht mehr wahr. Es interessiert ihn nicht wie es mir geht und leider kommt es jetzt auch öfters vor, dass er mich in der Sie Form anspricht. Oder dass er gar über mich spricht: «Sie»hat gesagt.

Beim Hinausgehen fragt er ob alle draussen sind, damit ich niemanden einsperre. In welcher Welt lebt Paul, was bewegt ihn? Er ist mir fremd geworden.

Selten erkennt er mich noch als seine Frau. Wer kann sich vorstellen, wie einsam man sich dabei fühlt?

Nach dem Nachtessen: «Willst du die Tagesschau sehen?» Ich stelle ihm den Fernseher an, er weiss nicht mehr, wie bedienen. Doch er schaut nicht lange, schläft bald ein. Dann plötzlich steht er auf, sucht etwas. Er geht zu meinem Rucksack und durchwühlt ihn.

«Was suchst du, kann ich helfen?»

Erst antwortet er mir nicht, sucht auch in meiner Handtasche, dann geht er hinter den Fernseher nachschauen. «Kann ich helfen, was suchst du?»

«Den Stern». Ich glaube, nicht richtig verstanden zu haben.

«Den Stern? Was meinst du?»

«Ja, den Stern, jeder weiss, was das ist.»

Oh Paul, ich verstehe nicht, woran denkst du, wo bist du, was bewegt dich?

Du bist hier, Paul. Aber das bist doch nicht du. Mir ist zum Heulen. Ich fühle mich total hilflos, ich habe auch Angst. Wie, wo, bei wem finde ich Hilfe? Wem kann ich mich anvertrauen? Was soll ich tun in dieser Not? Inmitten vieler Menschen fühle ich mich doch wie verloren, verlassen, unsicher.

Nun schläft er vor dem Fernseher. Wie muss ich mich verhalten? War es doch ein Fehler, hierher zu kommen? War es die falsche Entscheidung? Hat ihn das noch mehr durcheinander gebracht? Jede Veränderung, auch ein kleiner Ausflug, strengt ihn sehr an.

Den ganzen Tag über kontrollierte er total verunsichert die Medikamentenschachtel, klagt mich an ich rede ihm drein, nimmt immer wieder den ganzen Vorrat hervor, begutachtet die Schächtelchen und beschwert sich, dass ihm alle Leute dreinreden würden. Ich weiss mir nicht mehr zu helfen.

5. August 2010 – Im Hallenbad

Immer noch in den Ferien. Wie es mir geht heute Morgen? Danke, ich hatte einen guten, störungsfreien Schlaf. So lässt es sich gut aushalten.

Vormittags gehen wir ins Hallenbad, Paul muss wieder mal duschen, das wöchentliche Ritual, diesmal ohne Spitex-Hilfe. Und wieder ein Grund zum Danken. Paul liess sich anleiten, führen, in die Dusche, auf die Toilette, dann ins Bad.

Ursula Kehrli im Interview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Ohne mich wäre er nun total verloren. Er würde weder den Eingang ins Bad, noch den Weg auf die Toilette oder in die Dusche finden. Paul hat mir vorhin sogar dafür gedankt und gesagt, es tue ihm leid. Er merkt, dass es mich anstrengt, weil er ganz auf meine Hilfe angewiesen ist. Das ist neu, dass er sich bedankt. Wieder ist etwas von meinem Paul durchgeschimmert

Innert neun Monaten hat sich sein Zustand sehr verschlechtert. Die Abhängigkeit ist gross geworden, auch seine Hilflosigkeit.

Die Probleme haben zugenommen – auch meine Geduld ist gewachsen. Jedenfalls solange es mir gut geht. Und Paul sich führen lässt.

Dass es Paul heute Abend so gut geht und sich auch am Tischgespräch beteiligt, freut mich sehr. Er ist wieder mal «da», nicht nur körperlich anwesend – und ich fühle mich weniger einsam.

6. August 2010 – Nervenflattern

Im Speisesaal grosse Aufregung, wieder will man uns irgendjemanden an den Tisch setzen, obwohl es noch viele freie Plätze hatte. Warum will man stets unseren Tisch auffüllen? Das regt mich auf. «Eigentlich habe ich an meinem Mann genug zu tragen, ich mag nicht noch mehr», erkläre ich der Chefin.

Jede Veränderung bedeutet für Paul noch mehr Stress. Tränen wollen kommen, ich bin am Anschlag. Und das nach einer Woche Ferien, wo ich doch eigentlich erholt sein sollte! Dass dem nicht so ist, spüre ich an meiner Überreaktion.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Kurz darauf kämpft Paul mit einigen Fischgräten, einer bleibt ihm im Gaumen stecken und entsprechend panisch reagiert er, eilt zur Toilette um die Spange herauszunehmen. Aufgeregt und gestikulierend kommt er zurück.

Die Chefin kommt und fragt mich, was los sei. Ich erkläre ihr die Situation und nun erkennt sie  meine Probleme mit Paul. Sie wird von nun an niemanden mehr an unseren Tisch setzen.

7. August 2010 – Letzter Tag im Ländli

Nachmittags Ausflug aufs Rütli. Ich freue mich riesig. Erinnerungen an Schulreise und Soldaten. «Fahr nicht so verrückt». Immer wieder dasselbe, was mich gleich auf die Palme bringt. Obwohl ich besser darauf nicht antworten sollte.

Mit dem Auto nach Brunnen, verzweifelte Suche nach einem Parkplatz – da, endlich, jedoch so eng, weil die beiden rechts und links genau auf den Strich parkiert haben. Muss rückwärts parkieren und über den Beifahrersitz klettern.

Schon wieder sein mühsames: «Ich muss pissen». Ich suche nach einer Toilette und erneut Verzögerungen. Schliesslich kommen wir doch noch pünktlich zur Abfahrt des Schiffes. Ein einfaches Motorenschiff, aber die Freude ist nicht geringer, Schulreise-Gefühle!

Der Aufstieg zum Rütli ist für Paul mühsam, sein Knie schmerzt, doch belohnt wird die Anstrengung mit einem Kafi Schnaps und Nussgipfel. Wieder stehen wunderbare Sträusschen aus Feldblumen auf den Tischen. Erinnerungen an frühere Ausflüge werden wach.

Plötzlich habe ich schneidende Bauchkrämpfe. Erst sind sie noch erträglich, doch auf der Heimreise leide ich wie eine Frau in den Wehen. Zum Glück reicht es gerade noch mit letzter Kraft zum Hotel und auf die Toilette. Durchfall!

So ein Ausflug ist sehr anstrengend. Autofahren in unbekannten Gegenden bedeutet erhöhte Aufmerksamkeit und braucht mehr Kraft. von Paul kann ich keine Unterstützung mehr erwarten, im Gegenteil.

Ich frage mich, ob sich der Aufwand überhaupt lohnt. Statt ihm Freude zu bereiten, jammert und klagt er und ist unzufrieden.

Dann ist er jeweils noch verwirrter und weiss nicht mehr, dass ich seine Frau bin.

So suchte er «den Kollegen» beim Restaurant und ging ohne mich allein zur Rütliwiese hinauf.

Diese neun Tage Ferien sind morgen vorbei. Jetzt packt er seine Kleider ein – erneut Wirbel und Unruhe. Was ich bereits eingepackt habe, zerrt er wieder heraus und will genau wissen, was da in der Tasche ist.

Abgesehen davon, dass ich nicht selber kochen musste, brachten mir diese Tage kaum Erholung. Ich hatte gehofft, dass wir die Musse finden würden, uns in Ruhe zu unterhalten. Das war selten möglich. Einerseits antwortete er einsilbig und schien daran nicht interessiert. Ich vermochte ihn selten aus seiner Reserviertheit herauszulocken.

Das gelang Ruth, Gast an unserem Tisch, eher. Die strahlte er jeweils an, wenn sie mit ihm redete. Ähnlich war es bei unserer Putzhilfe. Mich nimmt er kaum wahr, auch wenn ich versuche, ihm nahe zu sein. Frustrierend. (Fortsetzung folgt …)