1. August 2010 – Meine Seele hinhalten
Heute im Gottesdienst habe ich Gott meine Verantwortung für Paul abgegeben. Ich sah mich schwimmen in tiefem Wasser, kämpfend mit dem untergehenden Paul. Ich versuchte ihn vor dem Ertrinken zu retten, ein aussichtsloser Kampf. Sogar unmöglich mich fortzubewegen, dem rettenden Ufer zu. Ich kapituliere. Ich lasse los. Ich überlasse ihn dir – so oft schon ausgesprochen, doch heute besonders innig gemeint.
Was nützt es, wenn ich mit ihm untergehe? Wenn ich an Ort strample und unfähig bin weiterzuschwimmen?
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
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1. August-Feier im Kirchengebäude: Auf der Bühne eine riesige Vase mit roten und weissen Gladiolen, Schweizerfahnen am Rednerpult und juhui, drei Schwyzerörgeli und eine Bassgeige.
Die Bassgeigerin nimmt ihr Baby im Buggy mit auf die Bühne, stellt ihn vor sich hin, damit die Kleine ihr beim Spielen zusehen kann. Die Jauchzer des Babys erfrischen und ich kann mich kaum beherrschen, will mitjubeln.
Am Schluss des Stückes muss ich einfach meinen angestauten Jauchzer loswerden, dann stimmen andere ein. Die fünf jungen Musiker spielen super.
Nach den Feierlichkeiten noch die Landeshymne singen (wusste gar nicht, dass die so viele Strophen hat), dann im Klang von Donner und Regenschauer hinaus. Die Bänke und Tische wurden inzwischen hereingetragen und Grillmeister Alois hat die Bratwürste bereit.
Doch Paul ist alles zu viel geworden. Er will zurück ins Zimmer. Es regnet stark, wir gehen durch den Tunnel zum Hotel. «Da ist ja meine Jacke, und meine Kleider», staunt er. «Wo sind wir?», er kennt sich nicht mehr aus. Wir setzen uns vor den Fernseher, das ist immer etwas Vertrautes. Langsam beruhigt er sich und lässt sich erklären, wo wir sind.
Wieder stelle ich vorsorglich den Stuhl vor die Zimmertüre. Er will das nicht, das seien ja Umstände wie in der Waldau, dort schliesse man die Leute auch im Zimmer ein. Wie ich den Stuhl vor die Türe rücken will, falle ich platt auf den Boden, mein Kopf schlägt hart auf.
Benommen bleibe ich einen Moment liegen, Paul gerät in Panik. Ich stehe auf, Bewahrung pur. Nur am Kopf eine Beule, das rechte Handgelenk schmerzt und ich bin schockiert. Aber auch wütend. Über Paul, über die endlosen Erklärungen, über die nächtlichen Störungen, darüber, dass ich keine Hilfe an ihm habe, dass er nicht mehr derselbe ist wie früher, über, über …