Reden und Gespräche führen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (15)

Reden und Gespräche führen

Frau Kehrli vermisst die schönen Gespräche, die sie früher mit Paul geführt hat, denn heute drehen sie sich meistens im Kreis. Zum Glück gibt es da noch ihren alten Freund Carlo, mit dem sie sich regelmässig trifft.

24. Juli 2010 – Tut so weh

Oft denke ich an meine Mutter, die wir schliesslich doch ins Pflegeheim bringen mussten. Dieser Stachel steckt bis heute in meinem Herzen. Nie hat die Mutter danach diese Situation je wieder erwähnt, wir konnten nicht darüber reden. Sie nicht, und ich selbst konnte es auch nicht. 

Überhaupt, Mutter redete nie über Gefühle, Gespräche blieben meist an der Oberfläche. Sie liess sich nicht in ihre Seele blicken. Bloss über ihre Jugend sprach sie gerne, das band uns in den letzten Monaten zusammen. Sie weilte gerne in ihren Erinnerungen von früher und ich konnte sie da begleiten.

Im Heim spielten wir Nachmittage lang Halma oder gingen spazieren. Ich ging täglich – mit wenigen Ausnahmen – zu ihr. Es zog mich zu ihr hin, ich versuchte ihr das Leben im Heim zu erleichtern. Es war nicht «das schlechte Gewissen», ich liebte sie und litt mit ihr.

Reden, Gespräche führen. Auch mit meinem Mann gab es in letzter Zeit selten tiefer gehende Gespräche. Jetzt überhaupt nicht mehr. Er entgleitet mir täglich mehr und mehr. Ich finde keinen Zugang mehr zu ihm. 

Wo ist er, wie geht es ihm? Er entfernt sich immer weiter von mir, ich höre ihn nicht mehr.

Er kapselt sich ab in seine eigene Welt. Früher war er voll Eifer in seine Arbeit in der Werkstatt vertieft, immer beschäftigt, ausgefüllt mit vielen Ideen. Dann im Garten, Blumen, Gemüse, ich sah ihn nur zur Essenszeit und abends vor dem Fernseher.

Die schönsten Stunden verbrachten wir unterwegs auf Reisen, oder bei Wanderungen, da hatten wir Zeit füreinander, auch später noch, am See sitzend, oder an der Sense. Gemeinsam die Natur geniessen, Vögel beobachten, Blumen bestaunen.

Oder dann natürlich das Pilze suchen, die grosse Leidenschaft von uns beiden. Sich verstehen, ohne viel Worte. Da sein füreinander, miteinander. Teilen. Gemeinsam das Leben geniessen …

28. Juli 2010 – Essen mit Carlo

Wieder einmal an einem Mittwoch Treff mit Carlo zum Essen. Lachen, lausbübisches, ertönt von unserem Tisch – die Leute gucken doof. Besonders wenn Carlo laut und voll Freude ruft: «Weisch, i ha di eifach gärn!»

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Wie er das meint? Ganz so wie er es sagt. Seine Liebe ist väterlich, brüderlich, kameradschaftlich. Es ist eine Freundschaft, die vor fast 30 Jahren ihren Anfang nahm.

Ein treuer Gottesdienstbesucher, zusammen mit seiner gebrechlichen zierlichen Frau, ein Mann, der mich immer ermutigt hat. Sei es nach meinem ersten Klavierversuch an einem Sonntagmorgen oder als Lobpreisleiterin mit dem Akkordeon.

Und damals, als ich Paul kennen lernte, ermutigte mich Carlo gar mit einem langen Brief der Anteilnahme und eben, einfühlsam und mit Lebenserfahrung. Wir mochten uns immer schon. Er erinnerte mich an meinen Vater – auch wegen seiner Spontaneität und seinem frohen Lachen.

Seit etwa drei Jahren ist Carlo Witwer, er pflegte seine kranke Frau lange Jahre. Kurz nach der Eheschliessung begann ihr Leidensweg nach einem Unfall, sie litt fortan unter heftigen Epilepsieanfällen.

Obwohl sie ihn frei gab vom Eheversprechen, hielt Carlo treu zu seiner Frau und ich bewunderte stets seine Fürsorge und Freundlichkeit.

Nun ist es für ihn wie für mich eine grosse Freude, uns ab und zu treffen und da auch ich zuhause keinen Ansprechpartner mehr habe um Gedanken auszutauschen sind diese fröhlichen Gespräche eine Erfrischung für uns beide.

Die Grenzen sind klar abgesteckt. Carlo ist 13 Jahre älter als ich, ich bin verheiratet und liebe nur meinen Paul.

28. Juli 2010 – Wo bist du?

Es ist nach 11 Uhr. Paul sitzt am Tisch und will nicht schlafen gehen. «Ich will nach Hause». Kein gutes Zureden hilft. Was soll ich machen, ich kann ihn doch nicht auf einem Stuhl sitzend übernachten lassen? Eine grosse Hilflosigkeit und Verzweiflung erfasst mich.

Da sitzt der mir vertraute, geliebte Mensch Paul, mein Ehemann, und er ist doch nicht da. Es ist als ob ich jemanden anrufe, der nimmt den Hörer ab, aber antwortet nicht. Du hörst ihn atmen, du weisst, dass er da ist, aber es gibt keine Verständigung.

Was tun? Angst schleicht sich ein. Angst vor dem Unbekannten, Unheimlichen und eben diese Hilflosigkeit, Ohnmacht seiner Reaktion gegenüber.

Ein fremder Mensch sitzt da, in wohlvertrauter Hülle.

«Paul, Du bist doch hier zuhause. Komm schau, da ist dein Bett». Ich bin müde, möchte schlafen gehen. «Wo ist meine Frau?» Ich umarme ihn. «Ich bin da, bei dir, hab dich lieb». «Ich will nach Hause!»

Ich gebe auf. Gehe ins Badzimmer, mache mich bereit für die Nacht. «Gute Nacht Paul, ich gehe schlafen», gebe ihm den Gutenachtkuss. Ob dieser «Trick» funktioniert? Ihm Zeit lassen, abwarten? Ich lese wie üblich im Bett. Es ist bald Mitternacht.

Da kommt er ins Schlafzimmer. Wortlos geht er zu seinem Bett, zieht sich aus, legt sich hin. «Gute Nacht, Fraueli, schlaf gut». Gutenachtkuss. Die Welt scheint wieder einmal in Ordnung zu sein. Stossgebet des Dankes zum Himmel.

29. Juli 2010 – Tabletten richten

Noch neun Tage bis zu unseren Ferien im Ländli am Ägerisee. Nach dem Frühstück: «Das macht mir Sorgen», sagt Paul.

«Wovor hast du Angst?»

Er zeigt auf die Medikamentenbox. Ja ich weiss, die Medikamentenverwaltung ist sein Stressfaktor Nr. 1. Es grenzt schon an ein Wunder, dass er seine Medikamente (etwa 12 Tabletten täglich) selbständig in die Box einräumen und sogar für Nachschub sorgen kann. Darüber staune ich immer wieder und bin glücklich, dass er das kann. 

Er würde niemandem dieses Amt überlassen, wehe wenn die Spitex Frau es versucht! Dann droht er ihr mit der Faust! Vorsorglich habe ich für zwei Wochen Vorratsschächtelchen.

«Schau, du musst nur diese alle auffüllen.»

«Und was ist mit denen da?» Er zeigt auf die noch bis Samstag gefüllten Schächtelchen.

«Diese drei sind ja schon voll. Du musst nur diese hier auffüllen.»

«Wie lange gehen wir?»

«Neun Tage.»

«Ich dachte nur eine Woche.»

«Wir fahren morgen Freitag und kommen Sonntag zurück. Letztes Mal waren wir sogar zwei Wochen weg.»

Ich rede bewusst langsam und deutlich.

«Genügen diese?», er deutet auf die vor ihm liegenden Schächtelchen.

«Ja, die reichen für zwei Wochen».

«Aber wir gehen ja nicht zwei Wochen».

«Dann hast du noch einen Vorrat wenn wir nach Hause kommen und musst nicht gleich wieder auffüllen».

«Wann gehen wir?»

«Morgen Freitag.»

Ich zeige ihm seine Wochenagende, die immer offen auf dem Esstisch liegt, da streiche ich jeweils die Tage durch und schreibe alle seine Termine ein. Ich erkläre ihm, morgen Freitagmittag ist Abreise, neun Tage in den Ferien, Sonntag zurück.

«Und wann kommen wir zurück?»

«Sonntag».

«Wie viele Tage sind das?»

«Neun. Schau, du musst einfach alle Schächtelchen auffüllen, dann stimmt das schon.»

«Ich frage dich dann.»

Ich sollte dringend auf die Toilette, die Fragerei nervt mich. Bin ungeduldig«Mach doch einfach was ich dir sage, dann stimmt es schon. Ich helfe dir ja».

Hier liegt der Unterschied. Ein Kind gehorcht schliesslich und tut, was die Mutter sagt. Mit Paul ist es mühsamer.

Er hinterfragt dauernd, widerspricht, argumentiert endlos, fordert mich heraus mit seinem Nachbohren, das nichts bringt. Obwohl ich weiss dass er das nicht absichtlich tut, sondern aus einer Hilflosigkeit heraus, bringt es mich dennoch auf die Palme. Täglich. Immer wieder, in allen möglichen Situationen.

Würden meine ausführlichen, einfachen Erklärungen nützlich sein und zu einer Einsicht führen, gäbe mir das die Kraft, auszuhalten, geduldig und liebevoll. Meistens jedoch ist es zwecklos, ihm Erklärungen abzugeben. Und doch will er sie. Er hakt immer wieder nach. Seufz. (Fortsetzung folgt …)

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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