20. Juli 2010 – Paul begreift die Zeit nicht mehr
Ich schaute mir einen Dokfilm zum Thema Demenz an. Ich fand die Reportage einfach zu friedlich, zu süss und zu niedlich dargestellt (aus der Sicht der Betreuenden jedenfalls). Die Problematik der Betreuenden kam zu kurz.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Die aggressive, anstrengende, ja für Angehörige nervige Seite der Alzheimer- und Demenzkranken wurde nur kurz angedeutet durch die Frau, die ihren Mann für Ferien zwei Wochen dort liess. Ihr wirkliches Problem kam nur kurz zur Sprache.
Man hat einfach Hemmungen, ehrlich darüber zu sprechen, man kommt sich als Versagerin, als Schuldige mit Mangel an Geduld und Liebe vor.Dies kam ein wenig bei der Frau mit Alzheimer vor, beim Problem mit dem Anziehen.
Und der Mann hat kein Gegenüber mehr, er ist einfach rund um die Uhr nur noch mit ihr beschäftigt. Und sie ist nur noch auf sich selbst konzentriert (das ist bei Paul auch schon ausgeprägt. Ich komme mir manchmal vor wie ein Möbelstück in der Wohnung. Es ist einfach da …)
Im Film sah alles zu harmonisch, zu nett aus, wie die Partner geduldig, friedlich neben ihren Kranken sassen. Das ist NICHT der Alltag der Betreuenden! Schon gar nicht mit Kranken, die in ihrer Persönlichkeit total verändert sind und zu Aggressionen neigen.
Der Partner mit der Alzheimer-Frau sagte es treffend: Das eigene Leben kommt zu kurz. Es geht völlig in der Betreuung unter. Der Alltag ist aufreibend, Kräfteraubend, herausfordernd.
Paul kann jetzt die Uhr kaum mehr begreifen. Ich muss ihm immer wieder sagen, wann er zum Bus gehen muss (trotz dem Zettel, den er ständig anschaut). Dafür hat er das räumliche und visuelle Gefühl noch.
Mit dem Bus findet er sich bestens zurecht und hat (noch) keine Probleme mit der Orientierung.
So kann er selbständig mit dem Bus in die Therapie nach Köniz und jeden Mittwoch in die Tagesklinik nach Bümpliz reisen. Dafür bin ich so dankbar. Es gibt mir kurze Verschnaufpausen.
21. Juli 2010 – Telefongespräch mit Carlo
Mit Carlo und seiner Frau verband uns eine langjährige Freundschaft. Auch nach ihrem Tod vor paar Jahren pflegten Paul und ich weiterhin Kontakt mit ihm. Ich sollte ihn wieder einmal anrufen. Seine Stimme tönt schwach, elend. Ich frage nach, wie es ihm geht.
Alleinsein, das ist das Problem. Heute hat er noch mit niemandem gesprochen. Der Sohn lebt zwar mit seiner Frau in Carlos’ Haus, aber sie leben ihr eigenes Leben, sie grenzen sich ab, Carlo ist also gleichwohl allein. Depression pur höre ich da heraus.