«Ich muss endlich Hilfe suchen!» - demenzjournal.com

Das Tagebuch (10)

«Ich muss endlich Hilfe suchen!»

Ursula Kehrli wird sich immer bewusster, dass sie ihre Bedürfnisse ständig hintanstellt und ihre eigenen Gefühle kaum mehr wahrnimmt. Sie sieht ein, dass sie ohne Unterstützung an dieser Aufgabe zerbrechen würde.

11. November 2009 

Heute nach dem Frühstück versuchte ich über sein Befinden, seine Gefühle zu sprechen. Paul blockte sofort ab, er mag das nicht. Als ich über die Spitex-Hilfe sprach, dass es gut sei, dass diese Unterstützung Sicherheit gebe, sagte er bloss verunsichert: «Ich will nicht mehr, nichts anderes, nichts weiteres».

Eigentlich habe ich keine Ahnung davon, was derzeit in ihm vorgeht. Arbeiten in der Werkstatt oder im Garten, den Nachbarn oder Freunden helfen, feines Essen, TV, Sportsendungen, Zeitungslesen; das alles war ihm immer wichtig.

Als seine Frau fühlte mich an seiner Seite immer geborgen, wertgeachtet, er stand stets an meiner Seite: mit Liebe, Treue, Fürsorglichkeit, Respekt und Hilfsbereitschaft. Wir hatten es so gut miteinander.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Und nun ist mir Paul fremd geworden. Er ist wie in sich selbst gefangen. Und sein sich-an-mich-klammern hindert mich an dem, was mir bis anhin Kraft und Freude gegeben hat. Ich werde nun dauernd eingeschränkt in meinem Tagesablauf, in Anspruch genommen von ihm. Er ist wie ein kleines Kind, das sich nicht mit sich selbst beschäftigen kann.

Beschäftigungen für ihn suchen ist auch anstrengend. Kleine Arbeiten verrichtet er gerne. Er war schon früher hilfsbereit. Leider mag er seit einiger Zeit nicht mehr in seiner Werkstatt arbeiten. Seine Schreinerwerkstatt benutzt er nicht mehr. Doch leichtere Gartenarbeiten, Hausarbeiten – wiederum auf meine Anregungen hin – verrichtet er gerne.

Zugegeben, mein eigener Alltag steht Kopf. Alles hat sich verändert. Die Angst meines Herzens ist gross. Ich bin sehr, sehr müde.

Fast alles, was ich zu ihm sage, muss ich zwei-, manchmal dreimal wiederholen. Auch das strengt sehr an. Mitteilungen an ihn muss ich erst »filtern», was davon versteht er?

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)

Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ist er im Augenblick wirklich »da»? Konzentriert er sich auf das, was ich ihm sagen möchte, oder beschäftigt ihn etwas, das er vorher loswerden muss? Ist meine Mitteilung für ihn wirklich wichtig? Würde sie ihn nicht unnötig beunruhigen?

Ich kann mit meinem Partner im Gespräch nicht mehr drauflos «sprudeln». Ich habe kein Gegenüber mehr, mit dem man Freuden, Leid und Anliegen teilen kann.

Es würde ihn überfordern, verunsichern, traurig machen, wenn er mir nicht folgen kann. Und oft werde ich dabei ungeduldig, ja gehässig, denn ich habe mich nicht immer unter Kontrolle – auch ein Zeichen der Überforderung.

Ich muss erkennen und zugeben: Ich bin alt und auch müde geworden. Ich möchte nun eigentlich «meine Ruhe» haben. Ich habe mit mir selbst, mit meinem alt sein genug Probleme.

Unser Hausarzt hatte mich vor paar Wochen mit seiner fast sarkastisch anmutenden Bemerkung sehr verletzt: «Ja, so ist es halt, in guten wie in schlechten Tagen … .» Ich fand das total «daneben».

Hier geht es doch nicht darum, ob ich zu Paul stehe oder nicht (für mich steht das ausser Frage!!), sondern darum, was man mir an Arbeit, Belastung und Verantwortung zumuten kann und darf, damit auch mein eigenes Leben noch lebenswert ist.

Denn auch ich habe Bedürfnisse, man spricht von Lebensqualität! Und genau diese wird nun eingeschränkt, beschnitten, oft auch einfach übersehen.

Ich brauche doch noch Kraft, um Paul weiterhin zur Seite stehen zu können! Ja, ich erkenne: Ich muss Hilfe beanspruchen dürfen! Das muss ich mir endlich eingestehen, ich muss handeln, solange ich es noch kann!

16. November 2009 – Engel

Dem sage ich Morgenröte. Wenn es finstere Nacht war, dann kommt das Morgenlicht. So war das auch heute. Zum zweiten Mal ist die Spitex Frau gekommen. Für mich ist sie wirklich ein Engel. Denn Paul lässt sich wie ein Lamm duschen, die Haare waschen, ja er geniesst das sogar.

Und ich habe das Gefühl der Entlastung. Ich werde weiterhin auf Engelshilfe zählen dürfen, was immer kommen mag. Und immer wird derselbe Engel da sein für uns – denn sie ist eine selbständige Spitex Frau, da gibt es keine ständigen Personalwechsel.

Nachmittags kam erstmals eine Putzfee, die meinen Fenstern wieder zum Durchblick verholfen hat. Und sie hat gleich ihren Mann mitgenbracht, der im Garten den Buchshag schnitt und andere Gartenarbeiten erledigte. Und er besass das nötige Feingefühl, Paul in die Arbeiten mit einzubeziehen.

So, ich kann wieder einmal durchatmen. Und ab Montag ist nach einer längeren Ferienpause endlich die Alzheimer-Beratungsstelle wieder erreichbar. Dann noch zwei Wochen, und unsere Ferien sind in Sicht. (Fortsetzung folgt …)