Es war ein strenges Jahr - demenzjournal.com

Das Tagebuch (5)

Es war ein strenges Jahr

«Erstaunt hörte ich erstmals den Ausdruck «hirnverletzt». War doch nicht alles in Ordnung mit Paul? War dies die Erklärung für seine Veränderung im Charakter?» Bild U.Kehrli

Es ist Sylvester und Frau Kehrli blickt auf ein anstrengendes Jahr zurück. Nichts ist wie früher, Ehemann Paul hat sich von den Zwischenfällen nie richtig erholt. Sie zweifelt an sich selbst und kann sich Pauls charakterliche Veränderungen nicht erklären.

31. Dezember 2006

Spaziergang Richtung Wald. Blick über die Stadt hinweg zum Weissenstein, dann auch zum Jura, den Höhen mit den im Frühjahr gut sichtbaren vertikalen weissen Streifen, wo der Schnee in Vertiefungen hängen geblieben ist.

Es ist 10° warm. Ein starker Westwind bläst, der soll später mit Sturmböen viele Wolken und Regen bringen. Für den 2. Januar sagen sie Schnee bis in die Niederungen voraus.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Mir ist wohl … , ein tiefer Friede erfüllt mich. Ich geniesse diese Spaziergänge alleine durch den Wald. Heute gehe ich den Weg um den Wald herum bis nach Matzenried, zum Bänkli, das ich im Sommer oft mit dem Malkasten aufsuchte.

An den Haselsträuchern sieht man schon die Zottelchen, alles erinnert an einen Märztag. Ich höre eine Meise jubeln; lange war zuvor kein Laut zu vernehmen im Wald. Es ist zu warm für diese Jahreszeit, noch keine Schneeflocke war zu sehen. Nur wo der Nebel alles einhüllte, gab es nach zwei sehr kalten Nächten Frost, der alle Sträucher verzierte.

An den übrig gebliebenen dürren Blättern der Buchen, an allen Ästchen und welken Halmen zauberte er weisse Sterne hin. Wie gelingt es dem Wald, sich immer wieder zu verwandeln? Kein Tag ist wie der andere, es gibt immer Neues zu entdecken. Das entlockt mir viele Jubelrufe. Oft gehe ich auch singend meinen Weg, Gott lobend – dann ist mir wieder wohl.

Es ist der letzte Tag des Jahres, das sehr viele neue Herausforderungen gebracht hat: Die Krankheit und der Tod unseres Nachbarn und Freundes, mit dem Paul 14 Jahre lang den Alltag teilte. Eine Woche nach Jürgs Beerdigung erlitt Paul einen Hirnschlag.

Welche Bewahrung, dass es morgens und nicht in der Nacht geschehen war! Paul war total gelähmt, im Koma.

Eine tiefe innere Ruhe liess mich das Richtige tun und ich konnte mit grosser Umsicht handeln.

Ambulanz rufen, Paul wurde sofort operiert im Hirn über die Leiste, nachmittags war er bereits wieder voll da, erinnerte sich auch, dass er mich frühmorgens weckte, weil ihm «komisch» sei.

Es schien, ein Wunder habe ihn wieder ganz genesen lassen, erstaunt hörte ich jedoch erstmals den Ausdruck «hirnverletzt». War doch nicht alles in Ordnung mit ihm? War dies die Erklärung für seine Veränderung im Charakter?

15. Februar 2007: Ausweichen

Mein Alltag ist mehr als herausfordernd, ich muss mich daran gewöhnen, dass eben doch nicht alles ist wie «vorher» … Habe sehr grosse Mühe herauszufinden, worüber ich mit ihm noch reden kann. Dadurch werde ich selbst auch ungeduldig und manchmal hässig, was mich wiederum belastet, weil ich mich selbst in Frage stelle.

Paul und ich müssen uns neu finden und das ist nicht immer leicht.

Oft fliehe ich in den Wald. Ich finde keine Möglichkeit, an ihn heranzukommen, ihm zu helfen, ihn herunterzuholen, wenn er sich aufregt. Ich fange an, ihm auszuweichen um unschöne Szenen zu vermeiden.

Wir finden kaum mehr Gemeinsames. Plötzlich macht er mir aus dem Nichts heraus Vorwürfe, ohne dass ich den Zusammenhang herausfinden kann. Ich soll das und jenes gesagt haben, was gar nicht stimmen kann. Er verheddert sich in solchen Behauptungen, klagt mich an, hört überhaupt nicht zu.

Versuche ich eine Erklärung darzulegen, wirft er mir «Schulmeisterei» vor. Unsere Kommunikation ist wie erloschen. Über Belangloses wie Tagesablauf oder Ausflüge zu sprechen ist noch knapp möglich. Meistens wenigstens.

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Die Angst vor seinen Ausbrüchen quält mich. Wie kann ich ihn in diesen Situationen erreichen, wenn er mich ablehnt, mir nichts glaubt,  wenn er nur an mir zweifelt und mich mit erfundenen Vorwürfen überschüttet, sich in Vorstellungen versteigt, die gar nicht zutreffen können?

Heute hat er Äpfel gerüstet. Auf dem Tischtuch. Wie ich es wegnehmen will, braust er auf: «Du hast dauernd an mir rumzunörgeln, rüste doch die Äpfel selbst». Wütend verlässt er die Küche. Kleinigkeiten eigentlich, aber sie sind so übermächtig geworden und geraten leicht ausser Kontrolle. Mir bleiben die verzweifelten Hilfeschreie im Gebet. (Fortsetzung folgt … )