Wie auf Minen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (4)

Wie auf Minen

«Ich denke an all die Ereignisse der letzten Monate, die Wutausbrüche, die Unzufriedenheit, das Motzen, die innere Unruhe.» Bild U. Kehrli

Ursula Kehrlis Ehemann Paul ist nach seinem Hirnschlag seit einer Woche wieder daheim. Er ist zwar aussergewöhnlich emotional, ansonsten aber wieder recht fit. Doch bereits droht nächstes Ungemach.

3. September 2006

Seit einer Woche ist Paul wieder zuhause. Er ist noch müde, braucht Ruhe. Ungewohnt aber ist seine Gefühlswelt, denn es gilt den Tod seines Freundes zu verkraften. Die Tränen sitzen locker, der Spitalaufenthalt hat auch ihn sehr aufgewühlt. Körperlich scheint er sich wieder völlig erholt zu haben. Es ist für mich ein Wunder. Oh, wie bin ich dankbar!

Doch plötzlich dies: Keine Reaktion mehr nach dem Mittagessen, apathisch sitzt er da, sein Blick ist leer, er ist nicht ansprechbar. Zum Glück ist heute mein Sohn Andy da. Telefon mit dem Notarzt. Wir können Paul selber ins Berner Insel-Spital transportieren. Das geht schneller, nicht schon wieder das Sirenengeheul der Ambulanz vor der Tür …

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners.  Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Diagnose: Untersalzung. Wie auch immer – nach der Infusion ist Paul wieder ansprechbar. Er wird zur Überwachung mit der Ambulanz ins Ziegler Spital überführt. Mitternacht, endlich bin ich zu Hause.

Ein anstrengender Tag geht zu Ende. Warum bloss sind die Stühle im Notfall Wartezimmer so unbequem, hart? Und zuhause die Wohnung so leer? Ich schleiche mich ins Bett. Alles tut weh. Aussen und innen.

Bin wie in einem reissenden Bergbach nach einem Gewitter, kann mich nirgends festhalten, finde keinen Halt, stürze in die Tiefe, werde mitgerissen, fortgespült. Kämpfe gegen die wild schäumenden Wasser, werde wund geschlagen. Hin und her geschleudert.

Kaum in ruhigeren Gewässern, kommt der nächste Absturz, ich kann kaum mehr Atem holen. Irgendwann fliesst jeder brodelnde, tobende Bergbach in einen See. Irgendwann wird es auch in meinem Leben eine ruhigere Phase geben, versuche ich mir Mut zuzusprechen. Dann, dann werde ich mich wie auf einer Luftmatratze treiben lassen. Werde ruhen, ruhen … Bin zu erschöpft um zu beten, dennoch ein Stossgebet: Herr, Hilfeeeee … !

19. September 2006

Ich wage beim Frühstück keinen Mucks, ich schweige: ich sehe es ihm schon an, diese finstere, unzufriedene Miene, er ist verärgert. Worüber? Ich weiss nicht, was ihn bewegt. Dann fällt ihm beinahe die Tasse aus der Hand, diese Zuckung – drohende Anzeichen eines Epilepsieanfalles. Ich bin still und beobachte ihn. Ja, schon wieder. Nach dem beinahe Wegschleudern des Brotstückes lege ich die «Notfall»- Tablette vor ihn hin (Rivotril).

«Bitte, Paul, nimm sie». Er wehrt sich, winkt ab, wird böse, macht mir Vorwürfe und ist verärgert. Ich gehe vom Tisch weg mit dem Vorwand die Fenster zu schliessen. Ich habe Angst, bin angespannt. Ich denke an all die Ereignisse der letzten Monate, die Wutausbrüche, die Unzufriedenheit, das Motzen, die innere Unruhe.

Getriebenheit bei allem: bei der Arbeit, im Garten, beim Autofahren, bei Diskussionen. Ist das noch mein Paul?

Dieser liebenswürdige Mensch, stets hilfsbereit und für alle da, dieser freundliche Mann, der mich so oft anstrahlte, der mir dankte fürs feine Kochen und sich darüber freute, frische Wäsche im Schrank zu haben, wenn er vom Duschen kam.

Stets fand er Worte der Anerkennung, ermutigte mich beim Malen, Musizieren, freute sich an meinen Handarbeiten. Paul schenkte mir die Geborgenheit, nach der ich mich immer gesehnt hatte. Nun kam Unsicherheit, Unheimliches in unseren Alltag, heftige Wortwechsel. Es ist  etwas fremdes zwischen uns entstanden, das ich nicht erklären konnte.

Zureden hilft schliesslich, er nimmt die Tablette, lässt sich zum Sofa geleiten, beinahe fällt er hin, knickt ein, kann sich noch hinlegen. Sogleich schläft er ein. Epilepsie-Anfall abgewehrt. Aufatmen. Aufregungen können Anfälle auslösen. Nur ja nicht!

Mir scheint, als ob ich mich auf einem Minenfeld bewege. Ich weiss nie, wann und wo es knallt.

Es ist als ob ich mit zwei Männern verheiratet wäre. Der eine nett, zuvorkommend, hilfsbereit, seit dem Schlaganfall etwa auch den Tränen nah und weicher geworden. Der andere Mann ist mir fremd, oft unzufrieden, oft mürrisch. Er nörgelt an allem rum. Stress beim Autofahren: Er korrigiert, reklamiert dauernd, schimpft über alle und alles und macht mir die Freude am Ausflug zunichte.

Interview mit der Autorin

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Ich wiederum werde gereizt und es gibt Streit. Die Stimmungen wechseln scheinbar ohne Grund, ich weiss nie, wen ich vor mir habe. Wie kann ich damit umgehen? Wenn ich in der Frühe aufwache, ist alles noch schlimmer. Da kommen düstere, traurige Gedanken hoch, am liebsten würde ich davon laufen. Dann kommt die Scham dazu, überhaupt solche Gedanken zu haben.

19. Oktober 2006: Beckenbruch

Paul holt die Leiter um die Trauben ganz oben abzulesen. Die Leiter rutscht seitlich weg, er fällt auf den Gartenzaun: Beckenbruch! Schon wieder Ambulanz! «Aber bitte nicht wieder mit Sirenen». Keine Chance. Verblutungsgefahr wegen Blutverdünner, werde ich aufgeklärt!

Schon wieder sitze ich vorne in der heulenden Ambulanz, während ich mich zu beruhigen versuche nach all den Aufregungen. Eben noch fuhr unsere Pfarrerin am Haus vorbei, hielt an, nahm mich innig in den Arm, «Ich bete für dich!» Welch ein Trost.

Paul kam vom Garten angekrochen, niemand hatte den Vorfall bemerkt. Mit grosser Anstrengung erreichte er die Wohnung.

Total durcheinander, mit grossen Schmerzen, schrie er mich bei allem an, was ich unternehmen wollte, doch endlich gelangte ich zum Telefon um die Ambulanz anzurufen.

Ich holte die Stöcke im Estrich. Im Badezimmer setzte ich ihn vors Lavabo. Gesicht, Hände, alles voller Erde. Bevor die Ambulanz kam: Medikamente, Toilettensachen, Arztberichte bereit machen. Kühlen Kopf bewahren, schnell auch meine paar Sachen einpacken. Alles wie gehabt, wie beim Schlaganfall vor einem Monat. Notfallstation, einchecken, rapportieren was geschah. Paul ist extrem aufgeregt, ja ausser sich!

Er hat grosse Schmerzen. Ich weise auf die Epilepsie hin, übergebe die Medikamente, die er unbedingt braucht. Er wird ins Röntgen gebracht, eindeutig Beckenbruch. Überführung ins Tiefenauspital.

Jeder Besuch bei ihm ist eine Herausforderung. Meine Nerven sind aufs äusserte angespannt.

Obwohl ich auf all seine Befehle und barschen Anweisungen höre und ihm jeden Wunsch erfülle, behandelt er mich unhöflich, herrisch und unfreundlich.

Lamentieren, Reklamieren, ein Glück: Seinen Zimmerkollegen kennt er von früher. Mit ihm ist er freundlich. Nur an mir lässt er meistens seine Launen aus.

Meinen 70. Geburtstag «feiere» ich bei Paul im Spital. Die Schwestern bestellten für mich ein Mittagessen, sogar mit einem Glas Wein. Er motzt über alles, Essen, Schwestern – nebenbei, ach, du hast ja Geburtstag, aber er gratuliert mir nicht. Ist das mein Paul? Grosse Traurigkeit erfasst mich.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Nach zwei Wochen soll Paul aus dem Spital entlassen werden. Wie weiter? Er braucht jemanden, der ihn anleitet selbständig zu werden mit den Stöcken, er braucht auch regelmässig Therapie.

Wie soll ich das bewältigen, wenn er dauernd über mich schimpft und sich nicht von mir helfen lässt? In der Reha Haltenegg in Heiligenschwendi finden wir für drei Wochen ein Doppelzimmer. Diese «Ferien» tun beiden gut, doch ab und zu übernachte ich zuhause. Paul wirkt jetzt ruhiger, zufriedener. (Fortsetzung folgt …)