26. Juli 2006 – Wie Pinguine

Schlange stehen vor dem Speisesaal. Endlich, aber pünktlich öffnet uns die stets lächelnde Wienerin die Tür. Im schmalen Gang entlang der Kabinen gibts Bewegung. Paul ist gut aufgelegt, diese Schiffsreise auf der Donau gefällt ihm. «Wie Pinguine», lacht er, «schau mal.»

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Anni, eine Angehörige im Heim, die alle weinenden Neuankömmlinge umarmte und tröstete, ermutigte mich, meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen. (uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Die Leute um uns herum kichern. Da das Gedränge jeweils gross ist, setzt man gemächlich Schritt vor Schritt, links rechts, eben wie Pinguine, die sich pendelnd auf dem Eis bewegen. Nach dem Essen gehe ich noch aufs Deck, das Treiben bei den Schleusen fasziniert mich, Paul will sich lieber ausruhen.

Nach einer Weile zieht es mich auch zum Mittagsschläfchen in die Kabine. Paul sitzt auf dem Bett mit einem Bündel gelber Zettel. Er ist aufgeregt, sein Blick forsch. Er herrscht mich sogleich an: «Was ist damit, was hast Du da gemacht?» Ich schaue mir die Belegzettel vom Restaurant verwundert an. Paul ist ausser sich, er brüllt weiter:

«Nun müssen wir das alles bezahlen, man hat uns das untergeschoben, man will uns betrügen!»

Ich versuche ihm zu erklären, dass der Gast vor uns diese Zettel hat liegen lassen. «Schau, das Datum hier, da waren wir ja noch nicht einmal da. Und hier der Name des Gastes, der hat ja unterschrieben. Das lässt sich klären, kein Problem.» Paul hört nicht zu. Er schreit mich an, er wettert, tobt. Ein fremder Mensch.

Angst und Hilflosigkeit überfallen mich. Ich versuche es wieder. Setze mich neben ihn aufs Bett. «Schau, hier, das Datum. Das kann ja nicht stimmen. Ich bringe das in Ordnung.» Ich versuche ihm die Zettel aus der Hand zu nehmen. Da verliert er total die Nerven. Zetert:

«Das weiss ich besser, hör auf mit deinem blödem Kommentar, schweig endlich, du hast mir gar nichts zu sagen, das weiss ich besser und überhaupt, du hast ja selber gesagt, man müsse alles bezahlen.» Ist das noch mein Mann? Mir stockt der Atem. Was tun?

Während der Fahrt auf der Donau.

Ähnliche Szenen hatte ich gelegentlich schon früher mit ihm erlebt. Oft konnte ich nicht mal den Ursprung seines Ärgers herausfinden, wenn er mich wie aus heiterem Himmel anschrie oder wegen irgendeiner Aussage beschuldigte, die ich nie gemacht hatte.

Ich bezeichnete unseren Alltag einmal wie den Gang über ein Minenfeld. Nie wusste ich, wann er explodieren würde oder was ihn so in Rage brachte. 

Ich gehe hinaus. Mag er weiter toben. Nichts was ich versuche kann ihn besänftigen, zur Raison bringen. Unruhig, aufgewühlt gehe ich an Deck, weiche den Menschen aus, verziehe mich auf einen Liegestuhl, täusche vor schlafen zu wollen.

Mein Herz rast, ich bin ratlos. Was läuft da ab? Mir ist angst. Solche Aufregungen können bei ihm auch epileptische Anfälle auslösen. Die ersten Anzeichen sind jeweils Zuckungen im Gesicht. Dann im Arm, Gegenstände die er in der Hand hält, fliegen herum. Was, wenn er gegen mich einmal tätlich wird? Was soll ich tun?

Noch nie habe ich jemandem meine Befürchtungen gestanden, oder über die Veränderungen im Verhalten von Paul gesprochen.

Es erscheint mir wie ein Verrat an unserer Beziehung, als ob ich ihn «schlecht machte» oder negativ über ihn redete. Nach einer halben Stunde gehe ich zurück in die Kabine. Aufatmen. Er liegt auf dem Bett und scheint zu schlafen. Ich schleiche zum Tischchen und nehme das Bündel Belege um sie im Korridor in einen Papierkorb zu werfen.

Zwei Stunden später, wie er auf Deck kommt, erinnert er sich nicht mehr an die Szene. Nebenbei erwähne ich, dass mit den Belegen alles OK sei. Er weiss nicht, wovon ich rede, ich lenke ab. Ich habe wieder meinen «Mann A», der «Fremde B» ist weg.

Was ist los mit ihm? In letzter Zeit haben sich Szenen ereignet, wo er mich mit Anschuldigungen überfiel, die ich nicht verstand. Er war wütend auf mich, ohne dass ich je den Auslöser dafür erfahren konnte. Auf Rückfragen antwortete er noch aggressiver und steigerte sich in gehässige Ausbrüche, dass mir angst wurde. Ich verliess dann die Wohnung mit dem Vorwand, einkaufen zu gehen. Eine Stunde später wusste er nichts mehr von dem Vorfall.

Die Ursache seiner Unruhe ist bestimmt die grosse Sorge um seinen besten Freund und Nachbar. Seit 14 Jahre sind sie täglich zusammen, beide gelernte Schreiner. Sie teilen den Alltag und besprechen alles miteinander. Die schwere Krebserkrankung von Jürg hat Paul zutiefst getroffen. Der Kummer um ihn ist auf der Donau mitgefahren … Werden wir Jürg noch wieder sehen? (Fortsetzung folgt …)