Bruchstückwerk - demenzjournal.com

Das Tagebuch (1)

Bruchstückwerk

Ursula Kehrli hat ihren an Demenz erkrankten Ehemann jahrelang zuhause betreut. Während dieser Zeit führte sie ein Tagebuch, in dem sie ungeschminkt und direkt ihre Erfahrungen festhielt.

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, spontan, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners.

Anlass dazu gab mir Anni, eine Angehörige im Heim, die alle weinenden Neuankömmlinge umarmte und tröstete. Sie ermutigte mich, meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen.

Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.

Glückliche Zeiten

Es ist mein Wunsch, all jenen eine Stimme zu geben, die sich als «Versager» quälen, sich vielleicht auch an den bekannten Bildern der sich bis-zum-geht-nicht-mehr Aufopfernden messen, diesen «Fähigen», wie es oft scheinen mag, die immer alles richtig machen: mit Engelsgeduld und der Kunst der Validation.

Es begann schleichend, mit Ratlosigkeit und vielen Fragezeichen. Da gab es Streit um nichts, plötzliche Anschuldigungen, ein Überschütten mit aus dem Blauen kommenden Vorwürfen und Behauptungen:

Ich hatte einen anderen Mann vor mir, Mann B. Immer häufiger stand dieser Fremde vor mir, mein Alltag war erschüttert. Die Feste und Geborgenheit meines Lebens zerbröckelte.

Endlich die Diagnose: Hirn vorne geschrumpft, mittlere Demenz/Alzheimer, Aphasie. Empfehlung, nach einem Heim Ausschau zu halten. «Nie», dachte ich, «das schaff’ ich schon, irgendwie!» Ein langer, steiniger Weg begann, ein mühseliger Aufstieg auf einen Berg im Irgendwo, hoch in den Wolken verborgen. Wandern im Nebel. Kalt und frostig.

Ich suchte nach Entlastung: Ein Tag Tagesheim, Spitex-Hilfe für die Körperpflege, neue Tagesstrukturen schaffen, Beschäftigungen für ihn erfinden, Abschirmen vor anstrengenden Ausflügen und Besuchen.

Mann B

25 Jahre glückliche Jahre mit Paul. Dann kam «Mann B» ins Gehege. Hat dazwischen gefunkt, hat unsere Beziehung vermiest. Mehr und mehr nimmt dieser Fremde Raum ein, es ist, als ob die geliebte Erscheinung meines Partners zum Feindbild würde. Da ist derselbe Mann, äusserlich, aber da ist das Unheimliche, nicht zu erklärende, Angst machende, das die vertraute Person kaum mehr durchscheinen lässt. In diesen ersten 25 Jahren erlebte ich das erste Mal in meinem Leben was Geborgenheit heisst, Liebe, Annahme, Verständnis.

Paul schenkte mir Anerkennung, Ermutigung, war hilfsbereit und freundlich. Paul liess mir völlige Freiheit in meinem Alltag, er unterstützte mich, meine Talente und Gaben zu entwickeln, war stolz auf mich. Anderseits war er überaus glücklich, dass er von meinen Talenten in der Küche und im Haushalt verwöhnt wurde. Ein Geben und Nehmen, wir liebten und achteten uns.

Bis eben, nach und nach der «Mann B» diese Einheit zu zerstören begann. Das scheibchenweise Abschied nehmen von meinem geliebten Mann begann. Ein Verlust auf Raten, neun Jahre bis zum endgültigen Abschied.

Dazu kam der Kampf mit mir selbst, mit der Einsicht, die Messlatte viel zu hoch gelegt zu haben: mit Wunschvorstellungen und Hoffnungen. Ich kam im Laufe der Zeit immer offensichtlicher an meine Grenzen. Dennoch: Andere hatten das Pflegen zuhause mit ihren Partnern auch geschafft. Warum nicht auch ich? Ein Heim kam überhaupt nicht in Frage, nicht einmal der Gedanke daran. Verdrängen war Alltag geworden.

Dann dies: Notfall! Spital. Das Schicksal hat eigene Wege. Die Pflegeheimsuche war plötzlich ein Muss. Mir blieben die verzweifelten Hilfeschreie in mein Notebook, das mir zum Gegenüber wurde. Da gab’s keinen Erfolg, keine Anerkennung, kein Lob, kein Dank. Ich bin nicht die Gelassene, Geduldige, sich total Aufgebende und in der pflegerischen Aufgabe begabte Frau.

Ich kämpfte mit Ohnmacht, Versagen, Scheitern und der Verzweiflung. Trauern im Dauerschmerz, da gibt es keine Tabletten.

Den scheibchenweisen Abschied gilt es einfach auszuhalten, zu ertragen, zu erleiden, zu erdulden. Das Gefühl des Versagens bei dieser ausufernden Aufgabe ist dauernd beklemmend gegenwärtig.

Ich musste erkennen: Es gelingt nicht, einem Menschen oder einer Aufgabe «gerecht» zu werden. Es bleibt beim danach streben und nicht aufgeben. Es durchzustehen ist Grund zur Dankbarkeit. Und Gnade, wenn «danach» noch Kraft bleibt, sein Leben alleine und erfüllt weiter zu leben. Auch wenn die Trauer weiter an meiner Seite geht. 

Interview mit Frau Kehrli nach 50 Folgen

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen