Der Mond und die Schiefköpfe - demenzjournal.com

Kurze Geschichten (2)

Der Mond und die Schiefköpfe

«Ich könnte mal den Mond fragen, was er dazu meint.» – «Kannst du ihn fragen, ob er auch mit mir spricht?» – «Ja, aber du musst Geduld haben, oft versteckt er sich hinter den Wolken.» Bild PD

Frau K. vergisst viel. Aber manchmal versteht sie mehr von der Welt als andere. Fünf Kurzgeschichten.

Gekühlt 

«Wo sind eigentlich all deine Schuhe? Du brauchst doch Schuhe für den Spaziergang», sagt die Tochter.

«Die sind im Kühlschrank», antwortet Frau K. «Leider ist für die Butter und den Käse jetzt nicht mehr so viel Platz.»

«Ich räume dir die Schuhe schnell raus, dann hast du wieder genug Platz für die Lebensmittel.»

«Nein, bloss nicht. Im Sommer müssen Schuhe gut gekühlt sein, wenn man in die Wärme geht», sagt Frau K. «Leider bleibt die Kälte nicht so lange. Dann gehe ich zurück und tausche die warmen Schuhe gegen kalte aus. Das hilft!»

Ausnahme

«Wie alt bist du?», fragt Frau K. den kleinen Jungen.

«Sechs.»

«Gehst du schon in die Schule?»

«Ja.»

«Magst du deine Lehrerin?»

«Manchmal.»

«Wie alt bist du noch mal?»

«Sieben.»

«Ich dachte, du bist erst sechs?»

«Bin ich auch, ich habe mich versprochen. Nächste Woche werde ich sieben. Meine Mutter sagt, dass alte Leute oft was vergessen. Dann bist du wohl eine Ausnahme.»

«Bestimmt», sagt Frau K.

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Feuchte Erde

«Wo waren Sie denn heute Nacht unterwegs, Frau K.?», fragt die Pflegerin.

«Woher wissen Sie das?»

«Ihre Schuhe sind voller Erde.»

«Nachts riecht die Erde viel erdiger als am Tag, ich mag das.»

«Aber es ist gefährlich nachts rauszugehen, Sie könnten sich verlaufen.»

«Waren Sie noch nie nachts draussen und haben die Erde gerochen?»

«Eigentlich nicht.»

«Schade. Nachts gibt es keinen Benzin-Gestank, der einen beim Riechen stört.»

«Können Sie nicht einfach an Ihrem Blumentopf schnuppern, Frau K.? Dann müssen wir keine Angst haben, dass Sie sich verirren.»

«Das ist doch nicht dasselbe! Und wenn Sie mich wirklich mal suchen, ich bin da drüben im Wald.» Frau K. macht eine vage Handbewegung nach draussen.

«Wo genau, Frau K.?»

«Da, wo es richtig schön feucht ist. Kommen Sie einfach mal mit.»

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Löcher

«Im Tischtuch sind ja überall Löcher», sagt die Tochter.

«Habe ich mit dem grossen Locher gemacht, hat gut geklappt», sagt Frau K.

«Was soll das denn?»

«Ich fand die Tischdecke langweilig, so ganz ohne Muster, einfach nur grün. Jetzt ist sie viel schöner.»

«Aber die Kuchenkrümel fallen jetzt durch die Löcher.»

«Na und? Kann ich später direkt vom Tisch essen.»

«Die gehören in den Müll!»

«Warum denn?»

«Weil sie alt sind und voller Fett.»

«Aber ich freue mich, wenn ich noch etwas vom Kuchen finde.»

«Wenn du willst, backe ich dir bald einen neuen, Mama.»

«Das meinte ich nicht. Das ist ja keine Überraschung.»

«Also, ich lege jetzt eine neue Tischdecke auf den Tisch.» Die Tochter hält einen Moment inne. «Wo ist eigentlich der Locher?»

«Ich weiss nicht, wo ich ihn hingelegt habe.»

«Bist du sicher?» Die Tochter seufzt.

Frau K. lächelt. «Ziemlich.»

Der Mond

Es ist Abend, und Frau K. steht am Fenster.

«Ich muss immer nachschauen, wo der Mond ist», sagt sie.

«Warum?», fragt Joanna, ihre Enkelin.

«Der Mond ist mein Freund, das hat er mir gesagt.»

«Der Mond kann doch gar nicht sprechen, Oma.»

«Zu mir schon. Und er hat mir nie gesagt, dass ich etwas vergesse, und er schaut mich auch nicht schief an.»

«Schauen dich die anderen denn schief an?»

«Ziemlich oft. Irgendwann werden sie davon alle einen schiefen Kopf bekommen.»

«Das ist lustig», findet Joanna. «Wenigstens ist dein Kopf schön gerade, Oma.»

«Deshalb ja», sagt Frau K.

«Weshalb, Oma?»

«Weil ich keinen schief angucke und ihm sage, dass er ständig etwas vergisst. Oder dass ich ihm etwas schon dreimal gesagt habe.»

«Meine Mama meint auch dauernd, dass sie mir alles dreimal sagen muss. Das nervt mich total. Ob sie davon auch irgendwann einen schiefen Kopf bekommt?»

«Kann schon sein. Ich könnte mal den Mond fragen, was er dazu meint.»

«Kannst du ihn fragen, ob er auch mit mir spricht?»

«Ja, aber du musst Geduld haben, oft versteckt er sich hinter den Wolken.»

«Ist er denn so schüchtern?»

«Eigentlich nicht. Er hat nur nicht so häufig Lust zu reden.»

«Aber du redest doch gern, Oma, oder?»

«Ja, schon. Nur um die Schiefköpfe mache ich einen Bogen.»