«Das Abschiednehmen sollten wir immer wieder üben» - demenzjournal.com

Tiefenpsychologie

«Das Abschiednehmen sollten wir immer wieder üben»

Zu den Wirklichkeiten des Lebens gehören das Sterben und Abschiednehmen. Bild Véronique Hoegger

Wer Menschen mit Demenz betreut, durchlebt grosse Schwierigkeiten und starke Emotionen. Peter Christian Endler steht betreuenden Angehörigen als Tiefenpsychologe und Therapeut zur Seite. Ein Gespräch über Loslassen, Vergänglichkeit und das Leben im Moment.

alzheimer.ch: Der Verlauf einer Demenzerkrankung ist mit vielen Verlusten verbunden. Ist es ein Unterschied, ob ich sie als Ehemann, Geliebter, Bruder, Sohn, Neffe oder bester Freund erlebe? 

Peter Christian Endler: Ich glaube, eine fortschreitende Demenz oder eine Demenzdiagnose kommt emotional fast dem Sterben gleich. Ob es ein Partner, ein Kind oder ein Geschwister ist, spielt keine Rolle. Es ist vor allem ein vorweggenommenes Abschiednehmen. In der Praxis sehe ich: Allen Beteiligten geht es besser, wenn sie sich im Loslassen üben.

Im Leben kann man nicht alles kontrollieren – auch die gesunden Angehörigen können es nicht, emotional schon gar nicht. Die Beziehung, die mir jetzt so wichtig war, die vielleicht erfüllend oder anstrengend war, gibt es nicht mehr. Man muss offen sein für etwas Neues. Dies gilt für alle im engen Umfeld des Erkrankten.

Zur Person

Dr. Peter Christian Endler ist Gesundheits­wissenschaftler und Tiefenpsychologe, Hochschullehrer und Psycho­therapeut sowie Gruppenpsychoanalytiker, vor allem im ge­ronto­psychiatrischen Setting. Im Frühjahr 2018 ist sein Buch «Der reflektierte tiefenpsycho­logische Fallbericht – Ein Lesebuch zu Ange­hörigenarbeit, Demenzbegleitung, Selbst­erfahrung und Achtsamkeit» im Verlag facultas erschienen.

Vor der Diagnose kommt der Verdacht. Der Erkrankte verändert sich. Was löst dies bei seinem Partner aus?

Frustration, Ärger, Wut, Überforderung. Überlegenheit auch – es hängt sehr davon ab, wie die Beziehung vorher war. Es kann sein, dass Abhängigkeitsverhältnisse zementiert werden. Eine solche Abhängigkeit tut niemandem gut. Jetzt bin ich überlegen, und er ist krank: Auch das gibt es. Und: Man hadert mit dem Schicksal. Warum ich? Warum wir?

Diese beiden Fragen kommen immer wieder. Wie können Sie den Angehörigen beistehen, wenn Sie solche Gedanken und Gefühle haben?

Das Ziel ist, dass dieses Warum-ich-Gefühl losgelassen und aufgegeben wird. Vielleicht kann man es als Prüfung verstehen oder als einen Schritt auf dem gemeinsamen Weg. Dass die Beziehung sich verändert, ist kein persönlicher Angriff.

Man muss sich von diesem Gedanken verabschieden – und offen sein, für das, was da ist. Es gibt neue Chancen und neue Einblicke. Als Therapeut kann ich das Gefühl teilen, dass etwas ganz Schreckliches passiert, und an der Hilflosigkeit teilnehmen. Und ich kann neue Gesichtspunkte aufleben lassen.

Ich kann teilnehmen und trotzdem etwas ausserhalb stehen. Damit gebe ich dem Angehörigen die Chance, dass auch er teilnimmt, aber trotzdem ausserhalb steht. Er soll sich fragen, wo er steht und was von ihm nun erwartet wird.

Kann es mich auch treffen? Angehörige sollten lernen, mit diesen Ängsten umzugehen.Bild Véronique Hoegger

Die Diagnose erleichtert, weil nun ein Grund für die Veränderungen benannt ist. Aber sie gibt die Gewissheit: Es geht abwärts, es werden Schwierigkeiten kommen, es wird zu einem Sterben auf Raten kommen. 

Die Diagnose ist oft hilfreich für die Angehörigen. Im ganzen weiteren Prozess ist es sehr wichtig, dass differenziert wird zwischen der Person, die ich gekannt habe, und der Krankheit. Dies ermöglicht es, den Kontakt zur Person aufrechtzuhalten.

Der schrittweise Abschied ist eine Übung, weil wir alle vom Tod betroffen sein werden.

Das Abschiednehmen sollten wir in unserem Leben ohne dies immer wieder üben.

So gesehen ist es ein Übungsfeld, mit einer Krankheit umzugehen. Er kann nicht mehr Autofahren, sie erkennt mich nicht mehr, er spricht nicht mehr. Immer wieder heisst es: Abschied nehmen.

Inwiefern können die Angehörigen an diesem schmerzhaften Prozess wachsen?

Indem sie sich den Wirklichkeiten des Lebens stellen. Zu diesen Wirklichkeiten gehören Abschied nehmen, loslassen und sterben. Wenn sie mit dem Erkrankten einen guten emotionalen Kontakt haben und auf einer anderen Ebene mit ihm kommunizieren lernen, verändert sich das Bild, was der Mensch eigentlich ist.

Der Mensch ist nicht unbedingt der, der seine Telefonnummer und Adresse auswendig sagen kann – sondern der, der meine Hand hält.

Er ist der Mensch, an den ich viele Erinnerungen habe, auch wenn sie ihm nicht mehr zugänglich sind. Er ist der Mensch, mit dem ich einen Spaziergang machen kann.

So kann einem bewusst werden: Es sind grundlegende Dinge, die das Mensch-Sein ausmachen. Dies macht mehr Sinn, als daran zu verzweifeln, dass dieses und jenes nicht mehr funktioniert.

Peter Christian EndlerBild PD

In Ihrem Buch «Der reflektierte tiefenpsycho­logische Fallbericht» sprechen die Angehörigen immer wieder davon, wie wichtig es sei, im Hier und Jetzt zu leben und zu denken.

Im Leben mit dement werdenden Menschen ist dies ein enorm wichtiges Instrument. Es ist ohnehin sinnlos, sich über das Übermorgen Gedanken zu machen. Ich mache das, was jetzt zu machen ist. Diese Lebenshaltung ist befreiend – für den Betroffenen und den Angehörigen, der dadurch Freiraum bekommt. 

Einige Angehörige berichten von der Angst, selbst dement zu werden… 

In der Arbeit mit den Angehörigen bedrückt mich dieses Gefühl auch. Kann es auch mich treffen? Was kann ich vorbeugend tun? Man sollte mit diesen Ängsten umgehen lernen. Dafür ist das Sein im Hier und Jetzt sehr gut. Auch zum Aufbau der kognitiven Reserven ist es gut, wenn man das, was gerade da ist, annehmen kann.

Man sollte nicht in alle Richtungen denken und sich dauernd ablenken. Mit dieser Ausrüstung – annehmen, was da ist – ist ein Loch, eine Krise auch in anderen Situationen leichter zu bewältigen.

Menschen, die in ihrem Leben gute Gewohnheiten aufgebaut haben, tun sich auch leichter, wenn sie dement werden. Ich kenne Menschen, die mit 90 manifest dement wurden und nach zwei Jahren gestorben sind. Man kann sich lange über Wasser halten mit guten Gewohnheiten. 

Nach der Diagnose

Einmal nach nirgendwo

Die Krankheit Demenz stellt Beziehungen auf die grösste Probe. Sie bringt Partnerschaften, Eltern-Kind-Beziehungen und Freundschaften in Schieflage. Die Angehörigen von Menschen mit Demenz … weiterlesen

Was verstehen Sie unter guten Gewohnheiten?

Einen guten Umgang zu haben mit sich, ehrlich zu sein zu sich, einen guten Kontakt zum eigenen Unbewussten zu haben. Darauf zu achten, was einem selber und den Mitmenschen gut tut. Nichts darstellen wollen, was man gar nicht ist und gar nicht will, authentisch sein.

Was ist schlimmer: Wenn der Partner auf einen Schlag an einem Herzinfarkt stirbt oder langsam an einer Demenz?

Diese Frage kann ich als Therapeut nicht beantworten. Ich persönlich würde mir aber wünschen, dass ich meine Frau nicht auf einen Schlag verliere. Selbst würde ich wohl lieber rasch gehen.

Man verliert seinen Partner, Geliebten und besten Freund in Raten. Wie füllen die Angehörigen die Lücken, die immer grösser werden?

Im Vordergrund stehen weniger die Lücken als die Aufgaben, die damit verbunden sind. Man muss sich mit der Situation auseinandersetzen, die Betreuung organisieren und das Netzwerk stärken. Für jemanden, der nicht mehr ganz jung ist, sind diese Aufgaben besonders anspruchsvoll.

Es bleibt nicht viel Zeit für Gedanken an andere Dinge.

Viele Verbindungen zur Verwandtschaft und zum Freundeskreis reissen ab, weil die Menschen von früher nicht wissen, wie sie mit dem Erkrankten umgehen sollen. Andererseits können andere – Kinder, Geschwister – Verantwortung übernehmen, man kann sehen, wie sie zupacken können, wenn es nötig ist.

Da gibt es sehr schöne, stützende Erlebnisse, wenn man die Aufgaben mit Angehörigen und Freunden teilen kann. Für die Partner oder die Partnerin des Erkrankten kann dies ein sehr wichtiges Erlebnis sein.

Ich habe Menschen begleitet, die am Anfang grosse Tiefs hatten. Sie konnten dann neue und intensive Beziehungen knüpfen. Sie konnten mit dem Partner in Respekt verbunden bleiben, trauten sich aber auch, neue emotionale Beziehungen einzugehen.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Gibt es weitere Möglichkeiten, die Lücken zu füllen?

Sich Freiräume zu nehmen und körperliche Aktivitäten zu pflegen, füllt nicht nur die Lücken, sondern gibt auch die Kraft, um die Betreuungsaufgaben gut zu machen. Mit dem erkrankten Ehemann konnte man schon lange nicht mehr auf einen Berg wandern. Indem man allein auf den Berg geht, kann man seine Autonomie wiederfinden. 

In den meisten Fällen kommt der Abschied von zu Hause, der Umzug ins Heim…

Ich sehe immer wieder, dass die Angehörigen einen Umzug ins Heim als persönliches Versagen erleben. Wenn es unausweichlich geworden ist, können sich Menschen mit Demenz in einem guten Heim recht gut eingliedern. Dort wird für sie gesorgt.

Das schlechte Gewissen der Angehörigen nützt niemandem etwas. Viele Angehörige erleben eine Erleichterung und können ihr Leben wieder in die eigenen Hände nehmen.

Wenn Pflegeaufgaben und Tagesstruktur fehlen, fallen manche Angehörige in ein Loch.Bild Véronique Hoegger

Darf man seinem erkrankten Partner den Tod wünschen?

Fragen Sie einmal Eltern, ob sie jemals den Wunsch hatten, ihr Kind zum Fenster hinauszuwerfen. Mütter und Väter trauen sich das oft nicht zu sagen. Aber es ist menschlich und kommt vor. Man darf sich ver­steckte Wünsche eingestehen.

Als kultivierte Menschen werden wir diese Wünsche nicht umsetzen, weil das soziale Ich stärker ist als das mörderische. Es geht bei diesen Impulsen nicht darum, dass man zum Mörder wird, sondern dass man Abstand bekommt.

Hegt man diese Wünsche aus eigenem Interesse oder weil man dem Erkrankten das Leiden ersparen will?

Einen solchen Todeswunsch kann man manchmal einfach in den Griff bekommen, indem man sich einen freien Nachmittag nimmt. Ich denke, dass auch in den Todeswünschen aus Mitleid der eigene Wunsch enthalten ist, eine Situation zu beenden, weil sie schwer zu ertragen ist. 

Kommt nach dem Tod des Partners die Befreiung oder das Loch?

Der schrittweise Prozess hat den Abschied teilweise vorweggenommen. Es entsteht der Wunsch, dass der Partner ein gutes Ende findet und ein gutes Hinübergehen. Ins Loch fallen Angehörige, wenn Pflegeaufgaben und die Tagesstruktur wegfallen.

Aber dieses Tief ist nicht so stark wie bei einem plötzlichen Abschied. Es kommen das Zurückschauen und die Erkenntnis: So gut ich es konnte, habe ich es gemacht. Dieses Gefühl muss man sich gönnen – auch, damit man offen wird für Neues.

Wie schnell kann man sich auf das Neue einlassen und zum Beispiel einen neuen Partner finden?

Der Wunsch, einen neuen Partner zu finden, ist bei den Männern viel stärker. Frauen sind oft zufriedener ohne Partner. Es gibt Einrichtungen, wo man mit Gleichgesinnten zusammenkommen kann. Zum Beispiel in Wandervereinen, Sport- oder Spielgruppen oder einem ehrenamtlichen Engagement.

Dabei geht es vor allem darum, diese Aktivitäten selbst zu geniessen und nicht krampfhaft nach einem Partner zu suchen. Wenn sich dann neue Kontakte ergeben, sind sie oft nachhaltig. Über Partnerbörsen weiss ich zu wenig Bescheid. Der Zustand des Offenseins hilft in jedem Alter, neue Kontakte zu knüpfen.