Das Drama beginnt schleichend. Elisabeth Briner, 58, weiss manchmal nicht mehr, wie man den Herd bedient. Sie geht nicht mehr einkaufen. Und bei einfachen Gesellschaftsspielen ist sie verloren. Schliesslich können ihr Mann Robert und die Kinder Norman und Charlotte sie überzeugen, zum Neurologen zu gehen.

Der Arzt ist schockiert. Elisabeths Briners Hirnscan sieht aus wie die Milchstrasse – voller weisse Punkte. Jeder einzelne ist zerstörtes Gewebe. Das war 2008, vor zehn Jahren.

2010 steht fest: Elisabeth Briner leidet an einer vaskulären Demenz, bedingt durch Durchblutungsstörungen im Gehirn. Später wird dazu noch eine frontotemporale Demenz kommen. Dabei werden Nervenzellen in jenen Gehirnregionen abgebaut, die Emotionen und Sozialverhalten kontrollieren.

Vaskuläre Demenz verändert die Persönlichkeit – für Angehörige besonders verstörend.

Elisabeth selbst begreift die Tragweite der Diagnose zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr, sie ist schon auf dem Weg in ihre eigene «Virtual Reality», wie es in der Familie heisst.

Es ist Montag, Knabenschiessen in Zürich, 12. September 2011. Elisabeth sitzt im Büro ihres Mannes – Robert ist Partner in einer Anwaltskanzlei – und hat einen Totalausfall. Sie weiss nicht mehr, wer sie ist und wo sie ist. Robert ruft den Arzt an, dieser rät zu einem Aufenthalt im Sanatorium Kilchberg in Zürich.

Robert bringt sie hin. Als er am Abend nach Hause kommt, versucht er, das Geschehene zu verarbeiten, und beginnt, ein Word-Dokument zu schreiben. Er weiss damals nicht, was daraus werden wird: 600 Seiten, dreifach gesichert. Titel: «Tagebuch». Es ist das Zeugnis eines schleichenden Zerfalls und einer tiefen Liebe.

Sonntag, 18. September 2011

Norman und ich holen Elisabeth für einen Spaziergang ab. Elisabeth ist klar, ohne Angst, wirkt aber sehr abwesend. Auf Fragen gibt sie klare Antworten. Wenn wir ihr etwas erzählen, hört sie zu. Es wird deutlich sichtbar, dass Elisabeth die psychische und seelische Nähe guttut. Geborgenheit ohne das Gefühl, irgendwelchen Ansprüchen genügen zu müssen.

Es gibt Tage, da kann Elisabeth nicht mehr allein zu Hause in Horgen sein. Einmal mietet Robert in der Nähe seiner Kanzlei in der Stadt während zweier Wochen ein Hotelzimmer für seine Frau, damit er alle paar Stunden nach ihr sehen kann. Wie ein altes Gemälde an Farbe verliert, so verblasst auch Elisabeths Persönlichkeit.

Donnerstag, 17. Mai 2012

Beim Abendessen hat Elisabeth einen ihrer (für sie entsetzlichen – und für mich natürlich auch) seltenen luziden Momente: Sie sitzt da, sagt, sie könne überhaupt nichts mehr selbst machen, und beginnt zu weinen. Schlimm.

Robert engagiert eine private Spitex. Am Wochenende und am Abend betreut er Elisabeth allein. In manchen Nächten steht Elisabeth sieben-, achtmal auf. Robert schläft neben ihr wie eine Mutter neben ihrem Kind. Bei der kleinsten Bewegung ist er hellwach.

In der 2012 eröffneten Tag-Nacht-Station des Demenz-Kompetenzzentrums Sonnweid in Wetzikon ZH bekommt er einen Platz für seine Frau und kann sie dort drei Tage pro Woche hinbringen – später vier. Er ist erleichtert.

«Wie ein altes Gemälde an Farbe verliert, so verblasst auch Elisabeths Persönlichkeit.»Ester Michel

Montag, 23. Juli 2012

Ich bin mit Elisabeth in den Ferien im Jura. Am Vormittag ist Elisabeth gut da, aber die Sprechfähigkeit ist miserabel. Wir fahren mit dem Funiculaire nach Magglingen und wandern. Es geht bergauf, und beim Gasthof Hohmatt ist Elisabeth erschöpft und will zurück.

Beim Nachtessen gibt es eine wunderbare Episode: Elisabeth sagt plötzlich, sie wolle Pommes frites. Als die Portion kommt, weiss Elisabeth nicht, wie sie essen. Also setze ich mich neben sie und füttere sie, was sie mit Hochgenuss geschehen lässt. Die ganze Beiz glotzt uns an. Aber ich denke mir, sollen sie doch. Ich kümmere mich um meine Frau und nicht um die.

Elisabeth und Robert lernen sich 1967 kennen. In einer Zeit, die später als «Summer of Love» bekannt wird. Bei einer Party tauschen sie scheue erste Blicke.

Robert denkt danach oft an dieses Mädchen mit dem einnehmenden Lachen.

Die beiden sehen sich wieder, als Roberts Banknachbar im Gymnasium – ein Hobby-Regisseur – für einen Film Darsteller und Requisiten sucht. Elisabeth bekommt die Hauptrolle, Robert bringt eine alte Pistole. Gedreht wird am Auffahrtswochenende, und nachdem Elisabeth mit Roberts Pistole «erschossen» wurde, kommen sie sich näher. Seither feiern sie an Auffahrt ihren Jahrestag.

Montag, 30. Juli 2012

Woher nehme ich die Kraft? Das fragen mich alle. Für mich ist die Antwort klar. Erstens die tiefe Liebe zu Elisabeth und das Wissen, dass es darum geht, Elisabeth ihre ‹wache› Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten. Die andere Zeit kommt schneller, als mir lieb ist.

Zweitens Fatalismus: nicht jammern über etwas, was nicht zu ändern ist. Drittens Pragmatismus: Es ist, wie es ist. Viertens: mein Beruf, den ich so gerne ausübe und der mir viel Halt gibt. Und letztens die Erkenntnis, dass alles darauf hinausläuft, dass ich mache, was ich kann. Ich will eines Tages in den Spiegel schauen und sagen können: Ich habe alles gemacht, was möglich war.

Robert schreibt weiter. Das Tagebuch hat längst unschätzbaren Wert. Robert kann Ärzte korrigieren, er kann die Briefe der Invalidenversicherung berichtigen, wenn sie den Verlauf der Krankheitfalsch wiedergeben, er kann sich an Momente erinnern, die auch er schon vergessen hätte.

Heute läuft Elisabeth, inzwischen 68, keine Runden mehr in der Sonnweid.Esther Michel

Doch mit Tagebüchern ist das so eine Sache: Sie lassen alte Zeiten wieder auferstehen, dafür aber auch die Realität umso klarer erscheinen. Was Elisabeth auf Seite 100 noch kann, geht auf Seite 200 vielleicht nicht mehr. Für Robert ist das brutal: «Auf jeder Seite stirbt meine Frau ein wenig mehr.»

Freitag, 24. August 2012

Eine furchtbare Nacht. Elisabeth will bei uns zu Hause einfach nicht einschlafen, alle zehn Minuten steht sie wieder auf. Irgendwann schlafe ich trotzdem ein, erwache um zwei Uhr – keine Elisabeth im Zimmer. Sie steht vor der Zimmertür, ist unruhig. Um halb drei stehe ich richtig auf, versuche, mich um Elisabeth zu kümmern, aber sie nimmt mich nicht wirklich wahr.

Seit April 2014 lebt Elisabeth stationär in der Sonnweid. Zwanzig Quadratmeter Wohnfläche. Eine grosse Matratze liegt am Boden, darauf Kissen und Kuscheltiere. In der Ecke steht ein Sessel. Sonst ist da nicht viel.

Als eine von wenigen hat Elisabeth ein Einzelzimmer. Viele Menschen auf einmal verträgt sie nicht. Daher auch die karge Einrichtung. Alles andere ist für sie Reizüberflutung.

Donnerstag, 7. Mai 2015

Elisabeth schläft, erwacht aber, als ich hineinkomme, und ist, ich kann es nicht anders sagen, förmlich sprachlos vor Freude. Mit offenem Mund streckt sie mir die Arme entgegen. Ich setze mich zu ihr – sie muss noch ein wenig erwachen, hat auch kleine Zuckungen.

Dann machen wir ein Fährtli um den Pfäffikersee. Nachtessen geht prima, Zubettgehen auch. Allerdings ist Elisabeth sehr aufgeregt. Und: Beim Zubettgehen weint sie einmal bitterlich. Man wird den Verdacht nicht los, dass sie gelegentlich ihre Situation geradezu überdeutlich realisiert. Schrecklich.

Robert schreitet durch die Eingangshalle, nickt auf seinem Weg zu Station E3 einer Pflegerin zu, hält für einen Schwatz mit einer Bewohnerin.

Einige nennen ihn hier «Vitamin-Robert», weil er so oft da ist und so viel macht.

Er besucht seine Frau dreimal in der Woche. Und wenn er da ist, will er alles allein machen. Seiner Frau das Essen reichen, mit ihr spazieren gehen, sie ins Bett bringen.

Menschen mit Demenz lassen sich nicht gern anfassen, und wenn auch Elisabeth mal nicht mag, dann kennt Robert einen Trick, der fast immer funktioniert. Er sagt dann: «Maddeli, umarme mich, wie du es früher gemacht hast.» Und meist legt Elisabeth dann die Hände um seinen Hals, drückt den Kopf kurz an seine Brust und lässt sich den Pullover ausziehen.

Donnerstag, 10. Dezember 2015

Elisabeth erkennt mich nicht wirklich, ist aber sehr zufrieden plappernd auf dem Boden. Ich setze mich zu ihr, und sie taut schnell auf. Sie kommuniziert mit mir. Gelegentlich schläft sie ein, ein wunderbares Zeichen, weil sie offensichtlich entspannt, angstfrei, ruhig ist.

«Ich geniesse das, was von meiner Frau noch da ist.»Esther Michel

Beim Nachtessen sage ich ihr, als sie mich wieder mal forschend anschaut, mehrfach: ‹Ich bin Robert.› Zuerst reagiert sie nicht, dann sagt sie plötzlich: ‹Das isch guet.› Dessert (Vermicelles-Torte) und zwei Mandarinli schmecken ihr prima. Sichtlich entspannt bringe ich sie zu Bett, sie verabschiedet sich mit einem Müntschi, sagt ‹Tschau›.

Zu Beginn der Krankheit wünschte sich Robert manchmal, dass es bald vorbei ist. Ein Freund von ihm starb an Krebs, nur wenige Monate nach der Diagnose. Robert sagt: «Das ist furchtbar, doch sein Leiden hatte ein Ende. Elisabeths Zerfall dauert seit Jahren an.» Wie lange noch? Das weiss niemand.

Robert gibt zwei Dutzend Paar Schuhe seiner Frau in die Kleidersammlung. Auch ihre alten Jeans, die sie wegen ihrer Hüftprotektoren nicht mehr tragen kann, hat er in einen Texaid-Container geworfen und ihr bequeme Trainerhosen gekauft.

Freitag, 22. Juli 2016

Um 17 Uhr bin ich bei Elisabeth, mit vielen Früchten und einem ‹Heidis Öpfelchueche› vom Kölli-Beck. Elisabeth liegt auf dem Boden und lässt sich noch so gerne in eine vernünftige Sitzposition hochziehen (Stehen geht fast gar nicht mehr) – und beginnt zu plaudern, macht Faxen.

Es ist so anrührend, wenn man es nicht erlebt hat mit dem ganzen Hintergrund, schwer zu beschreiben. Aber es ist wie vor 15 Jahren: Wir reden, lachen, teilen, erzählen – einfach anders, intuitiver, elementarer, emotionaler. Vor allem anders – aber nicht weniger gut.

Über die Jahre hat Robert mehr und mehr seinen Frieden mit der Krankheit geschlossen. Für ihn hat die Demenz ihren Schrecken verloren. 

«Ich geniesse, was von meiner Frau noch da ist. Der Geist wird dement, doch das Herz nicht.»

Auch wenn Elisabeth wohl nicht mehr weiss, dass er Robert – ihr Mann – ist, freut sie sich über seine Nähe. «Die Pflegerinnen sagen oft, dass meine Frau ganz anders sei, sobald ich da bin. Und ich habe ihre Nähe unverändert gern.»

Samstag, 1. April 2017

Eine Zusammenfassung: Für Elisabeth ist es nicht (oder jedenfalls nicht mehr) so schlimm, wie ich früher dachte. Und für mich ist es zwar schlimm, aber heute kann ich das richtig einordnen. So vieles sehe ich heute positiv, was ich früher nicht konnte.

Was kann es für eine Rolle spielen, ob sich Elisabeth und Frau G. (eine andere Patientin) auf ihre Weise statt auf unsere Weise unterhalten? Wer sagt uns, dass wir die sind, die richtig verstehen? Wenn die zwei sich verstehen, ist doch alles bestens. Es ist keine Frage, ich bin heute ein anderer Mensch als vor einigen Jahren, weil ich Dinge verstehen und einordnen kann.

Heute läuft Elisabeth, inzwischen 68, keine Runden mehr in der Sonnweid. Sie wird im Rollstuhl geschoben, ihr Bewusstseinshorizont ist mittlerweile sehr klein geworden. Die Besuche von Robert werden aber nicht weniger. Obschon ihm früher einige Leute sagten, dass er nicht mehr so oft zu kommen brauche, da seine Frau ihr Zeitgefühl verloren habe.

Das sieht Robert, 69, anders. So plant er nochmals Ferien mit Elisabeth. Was bedeutet, dass er eine Woche lang bei ihr im Zimmer in der Sonnweid wohnen wird.

Donnerstag, 16. August 2018

Als mich Elisabeth sieht, macht sie laut ‹Tütütütütüt!›, lacht, freut sich buchstäblich wie ein Kind. Sie trägt eins der neuen T-Shirts – und sieht darin so blendend aus wie eh und je.

Nach der stürmischen Begrüssung bringe ich sie auf die Veranda, wo sie quietschvergnügt sitzt, ‹redet›, lacht, mir einmal spontan einen Kuss gibt und mit grossem Appetit den Apfelstrudel mit Vanillesauce isst.

In letzter Zeit war sie oft irgendwie abwesend oder wurde rasch müde, heute keine Spur. Sie ist dermassen fröhlich aufgelegt und vergnügt, ich bleibe noch eine gute halbe Stunde.

Elisabeths Geschichte geht weiter. In der Sonnweid, in ihrer «Virtual Reality» und in Roberts Tagebuch.