Was ist eine Demenz? - demenzjournal.com

Eine ethische Perspektive

Was ist eine Demenz?

Der moralische Status des Menschen ist an nichts anderes gebunden als an das Kriterium des Menschseins. Bild Dominique Meienberg

Medizinische Strategien beherrschen das Feld, wenn es um Fragen nach dem Wesen der Demenz geht. Dadurch gerieten zahlreiche Aspekte der Demenz und die von ihr Betroffenen gar nicht erst in den Blick. Stigmatisierung und Tabuisierung sind somit leicht zu erklärende Folgen.

Was ist ein Mensch mit Demenz? Ist er ein Mensch, der zunehmend von seinem Geist verlassen wird (demens)? Zerfrisst die Demenz seine Vernunft, bis der Mensch gleichsam selbst vernichtet wird? Ist er (noch) ein emotionales, ein empfindendes Wesen? Hat der Mensch mit Demenz noch Würde? Erleidet er ein unwürdiges Siechtum? Ist er ein Mensch mit einer unheilbaren Krankheit? Wird er bestimmt durch die Anzahl der senilen Plaques in seinem Gehirn?

Werden schlaglichtartig Antworten auf die Frage so gegeben, wird deutlich: Die Demenz – und unser Umgang mit Demenz – wirft die Frage nach unserem Menschenbild auf. Dabei steht die Beschäftigung mit Demenz in einer Tradition, die das Thema wesentlich geprägt hat – und von dem sich die heutige Diskussion und die jetzige Realität erst emanzipieren muss.

Lange Zeit hat es sich die Öffentlichkeit sehr einfach gemacht: Die Alleinzuständigkeit zur Beschäftigung mit dem Phänomen Demenz wurde an die Medizin übertragen.

Indem die Alzheimer-Demenz vor etwa 40 Jahren in die Diagnoseschemata aufgenommen wurde, wurde zementiert, dass es Ärzte sein sollen, die mit ihren Methoden und Instrumentarien für Diagnostik und Therapie der Krankheit Demenz zuständig sind. 

Folglich beherrschen bei der Frage nach dem «Wesen» der Demenz heute medizinische Antwortstrategien das Feld. Nahezu jeder, der sich im Themenfeld Demenz bewegt, kann mühelos Leitsymptome, Ätiologiehypothesen (Vermutungen über die Ursachen der Krankheit) und therapeutische Optionen nennen.1

Die Tücken und Fallstricke dieses Vorgangs (der Übertragung des Themas Demenz an die Medizin) sind im Ergebnis heute gut zu erkennen. Die Medizin, die lediglich das, was man ihr aufgetragen hat, getan hat, kann letztlich nur ein ausschnitthaftes Bild der Wirklichkeit Demenz bearbeiten: Diagnostik und Therapie einer Krankheit.

Durch diese Pathologisierung gerieten zahlreiche Aspekte der Demenz und die von ihr Betroffenen gar nicht erst in den Blick. Stigmatisierung der Betroffenen und Tabuisierung des Themas Demenz sind somit leicht zu erklärende Folgen.

Hinzu kam ein Weiteres: Indem der Blick lange Zeit allein auf die zunehmenden Einschränkungen und Verluste der kognitiven Leistungsfähigkeit von Menschen mit Demenz gerichtet wurde, trat ein Aspekt der Demenz in den Vordergrund, der angesichts des gegenwärtigen Zeitgeistes verheerende Folgen hatte:

In einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung, Autonomie, intellektuelle Leistungsfähigkeit, Freiheit und Unabhängigkeit von höchster kultureller und politischer Relevanz sind, scheinen Menschen mit Demenz mit Voranschreiten des demenziellen Prozesses genau das alles nicht mehr zu sein und verwirklichen zu können, was als Leitwert Geltung hat.2

Prozesse des Alterns, die mit einem Verlust der Fähigkeit zu rationaler Selbstbestimmung einhergehen, werden in den pathologischen Bereich gedrängt und mit dem Siegel «krank» versehen. Menschen mit Demenz kamen so über lange Zeit im gesellschaftspolitischen Diskurs so gut wie nicht vor.3 Die Gesellschaft als Ganze erklärte sich als für das Thema Demenz nicht zuständig.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Nicht an vermeintliche Experten abgeben

Demenz im Alter stellt für die moderne Gesellschaft fraglos eine Provokation dar. Dass ein Demenzprozess an sich Ängste und Stigmatisierungstendenzen auszulösen vermag, muss ernstgenommen werden. Doch wird es schon allein angesichts der zahlenmässig auf uns zukommenden grossen Menge an Menschen mit Demenz in den kommenden Jahren keine Lösung sein, das Thema Demenz weiter zu tabuisieren oder an vermeintliche Experten abzugeben.

Die Auseinandersetzung mit der Demenz wirft die Frage nach unserem Menschenbild auf. Letztlich geht es bei der Demenz um die Frage nach den ethischen Grundlagen unserer Gesellschaft.

Eine heute notwendige Ethik der Demenz hat an der Würde des Menschen und an der Relationalität, der Beziehungsfähigkeit, der Personen untereinander Mass zu nehmen.4 Dies setzt die Grundannahme voraus, dass allen Menschen die Gesamtheit ihres Lebens über die gleiche Würde zukommt. Der moralische Status des Menschen ist an nichts anderes gebunden als an das Kriterium des Menschseins.

Der Zuschreibungsgrund von Personalität wird gerade nicht von aktuellen Fähigkeiten wie Kognition oder Autonomie abhängig gemacht: Jeder Mensch ist Person. «Person» und «Mensch» sind von ihrem Bedeutungsumfang her deckungsgleich. Diese Sätze haben auch dann Geltung, wenn eine Persönlichkeit sich verändert, wie das im Demenz-Prozess der Fall ist.

Gemeinschaftliche Bezüge

Die besondere anthropologische Situation, in der sich ein Mensch mit Demenz befindet, sollte stärkere Beachtung finden. Von einer ganzheitlichen Anthropologie geht die Forderung aus, die konkrete Lebenssituation von Menschen mit Demenz in den Blick zu nehmen.

So gehört es zur Eigenschaft der Alzheimer-Demenz, dass sie sich im Alter manifestiert. Zeit ihres Lebens haben die Betroffenen Präferenzen ausgebildet und Erfahrungen mit Glück und Leid, Krankheit und Tod, Trauer und Freude gemacht. In den meisten Fällen leben sie in gemeinschaftlichen Bezügen, haben Nach- kommen oder Familie und Freunde.

Weiter ist auf die besondere Lebenssituation zu achten, in der sich der Mensch mit Demenz befindet: Sein Leben ist verwundbar geworden und neigt sich langsam, aber fortschreitend dem Ende zu. 

Angesichts gegenwärtiger Tendenzen, die bislang vergeblich darauf ausgerichtet sind, nach kausalen Heilungsmöglichkeiten für Menschen mit Demenz zu suchen, ist der Hinweis der Ethik bedeutsam, dass die Fragmentarität und die Verletzlichkeit wesentlich zum Menschsein gehören.

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Gegen die Utopien von Ganzheit und Vollkommenheit ist das Wissen um Brüche und Verluste, die konstitutiv zum Leben gehören, zu stellen. Für jeden einzelnen Betroffenen und seine Angehörigen ist die Lebensphase der Demenz womöglich eine der schwersten.

Die Hoffnung, dass heilende oder lindernde Massnahmen gefunden werden, ist nicht aufzugeben. Solange Heilung nur symptomatisch gelingt, wird gegen ausgrenzende Tendenzen heute der Hinweis immer wichtiger: das fragmentarische und beeinträchtigte Leben geborgen sein zu lassen in Beziehungen, die dem Menschen alle Hilfe zukommen lassen, um sein Leben zu erleichtern.

Daraus resultiert die praktische Forderung, das Augenmerk und Engagement mehr noch als bisher auf die Begleitung und Pflege zu richten.

Demenz macht vor allem eine Grundbedingung des Menschseins deutlich: die Relationalität des Menschen. Der Mensch kann sein Leben nur im Verhältnis zu anderen leben. Es gehört wesentlich zum Menschsein, dass man es nur in Relation ist, das heisst, in Bezug auf andere und mit anderen zusammen. Bezogen auf die Demenz bedeutet dies:

Menschen mit Demenz werden nicht zu Einzelwesen, auch wenn sie im Verlauf des Prozesses den Kontakt mit ihrer Umwelt nach und nach verlieren mögen.

Selbst in einer extremen Ausnahmesituation wie der Demenz kann die Würde des Menschen von anderen wahrgenommen werden. Die Sichtbarmachung von Würde ist ein interaktives Geschehen. Sie wird dem Menschen mit Demenz von demjenigen entgegengebracht, der ihn in seinem veränderten Sosein versteht und annimmt.

Begegnung mit Menschen mit Demenz bedeutet damit immer auch den Vollzug eines Anerkennungsaktes, indem der Angehörige, der Pflegende oder der Arzt seine persönliche Beziehungsfähigkeit zum Ausdruck bringt. 

Die Mitmenschen – konkret die Angehörigen und Pflegenden, im weiten Sinne die Gesellschaft – sind es, die dem Menschen mit Demenz seine Würde entgegenbringen und die verletzliche Person vor unzulässigen Übergriffen oder der Aberkennung der Menschenwürde schützen.

Als ein Ausfluss dieser Relationalität muss angesichts der Demenz die Tatsache gelten, dass Angehörige als wesentlich Betroffene zusammen mit den Menschen mit Demenz in das Blickfeld kommen. Für sie ist Sorge zu tragen. Und mit ihnen muss das ethische Prinzip der Fürsorge (als ein Ausfluss der Beachtung der Relationalität) in den Fokus rücken.5  

Dabei muss das Prinzip der Fürsorge immer wieder ausbalanciert werden mit dem Prinzip der Selbstbestimmung. Erst wenn dies im Normativen gelingt, wird im Praktischen das Phänomen Demenz wirklich in die Mitte der Gesellschaft gerückt sein.

In jeder Gesellschaft spiegelt der Umgang mit den schwächsten ihrer Mitglieder auch soziale Strukturen wider. Einer solidarischen Gesellschaft kommt die Aufgabe zu, sich über den Umgang mit dem wachsenden Phänomen Alzheimer-Demenz Rechenschaft abzulegen.

Wenn sich die Gesellschaft dem Phänomen Demenz stellt, wird sie sowohl die Medizin von der ihr übertragenen alleinigen Verantwortung entlasten als auch sich selbst praktisch und ethisch begründet in die Pflicht nehmen lassen. Denn Demenz ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. 


Literatur:
1 Zu den medizinischen Grundlagen der Demenz: Förstl, Hans (Hg.) (2011): Demenzen in Theorie und Praxis. 3., aktualisierte und überarbeitete Auflage. Berlin: Springer.
2 Körtner, Ulrich J. H. (2012): Das Menschenbild der Leistungsgesellschaft und die Irritation der Demenz, Zeitschrift für medizinische Ethik 58, S. 3–22.
3 Groemeyer, Reimer (2013): Das 4. Lebensalter. Demenz ist keine Krankheit. München: Pattloch.
4  Vgl. Wetzstein, Verena (2005): Diagnose Alzheimer. Grundlagen einer Ethik der Demenz. Frankfurt a. M.: Campus.
5 Klie, Thomas (2014): Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft. München: Pattloch; Kricheldorff. Cornelia ( 2013): Vom Pflegemix zur Caring Community. Neue Antworten auf den Pflegebedarf der Zukunft; Zeitschrift für medizinische Ethik 59 (2013), S. 71–84.