«Manchmal braucht es einfach seine Zeit» - demenzjournal.com

Interview

«Manchmal braucht es einfach seine Zeit»

Je nachdem, wie sich der Zustand des Bewohners verändert, verändern sich zum Beispiel die Bedürfnisse nach Nähe oder Distanz. Bild Dominique Meienberg

Die Betreuerin Corinne Eicher (22) versucht die Bedürfnisse von verschlossenen Menschen mit Demenz herauszufinden – was ihr meist innert weniger Wochen gelingt. Ratlos war sie nur in den ersten Tagen ihres Praktikums, das sie als 15-Jährige in der Sonnweid absolvierte.

alzheimer.ch: Sie kommen gerade von der Arbeit auf der Station. Was gab es zu tun?

Corinne Eicher: Wir haben die Bewohner vom Mittagsschlaf geweckt und beim Aufstehen unterstützt. Jetzt wird ihnen Kaffee und Eis serviert.

Machen alle einen Mittagsschlaf?

Nicht alle. Nur jene, die wirklich erschöpft sind. Es ist von Tag zu Tag unterschiedlich.

Warum wecken Sie die Bewohner auf?

Viele würden wahrscheinlich bis in den Nachmittag hinein durchschlafen. In der Nacht wären sie wach und am nächsten Tag sehr müde.

Gibt es Bewohner:innen, die sich gegen das Aufstehen nach dem Mittagsschlaf wehren?

Das gibt es manchmal. Meist lassen wir sie dann noch etwas liegen und versuchen es später wieder. Grundsätzlich können unsere Bewohner selbst entscheiden, wann sie am Morgen aufstehen oder am Abend ins Bett gehen möchten.

Wie lange kennen Sie die Menschen schon, die Sie heute betreuen?

Ich bin seit vier Jahren auf dieser Abteilung. Drei Bewohner lebten schon hier, als ich anfing. Sie und ihre Bedürfnisse kenne ich natürlich am besten – auch wenn sie sich nicht mehr über die verbale Sprache ausdrücken können. Man versteht sie dann über die Mimik und die Gestik.

Haben sich die Bedürfnisse dieser drei langjährigen Bewohner in dieser Zeit verändert?

Die Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlafen bleiben gleich. Je nachdem, wie sich der Zustand des Bewohners verändert, verändern sich zum Beispiel die Bedürfnisse nach Nähe oder Distanz.

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Wie lange braucht man, bis man einen Bewohner kennt?

Ich arbeite in einem 100-Prozent-Pensum, deshalb weiss ich nach einem Monat schon recht viel. Wer in einem kleinen Teilzeitpensum arbeitet, braucht länger. Es gibt aber je nach Bewohner und Mitarbeitende Unterschiede.

Haben Sie beim Kennenlernen eine bestimmte Methode?

Bei mir geht es vor allem über Wahrnehmung, Beobachtung und Gespräche. Wenn der Bewohner nicht mehr spricht, kann ich mit den Angehörigen reden. Über seine frühere Arbeit oder früheren Hobbys kann ich Berührungspunkte finden. Wenn sich jemand zurückzieht und verschlossen ist, dauert es länger. Ich versuche dann, möglichst viel für ihn da zu sein, und beziehe ihn mehr in die Gruppenaktivierungen ein.

Eine Teilnahme am Gottesdienst, am Chor oder an einer Bewegungsaktivität kann hilfreich sein. Ich kann ihn beim Mittagessen in die Gruppe integrieren oder mit ihm spazieren gehen. Manchmal braucht es einfach seine Zeit. Jeder Mensch ist anders, es gibt keine allgemein gültigen Rezepte.

«Ich wusste nicht, wie ich mit diesen Menschen umgehen sollte. Ich war schüchtern und zurückhaltend. Irgendwie war ich verloren.»

Was ist, wenn er nicht an den Aktivitäten teilnehmen will?

Dann lassen wir ihn in Ruhe. Vielleicht gehe ich dann in sein Zimmer, lese ihm aus einem Buch vor oder stelle ihm einen Mitbewohner vor. So finde ich nach und nach heraus, was er mag und was nicht.

Wie war es für Sie, als Sie vor gut sechs Jahren in der Sonnweid Ihre Lehre anfingen?

Ich absolvierte zuerst ein Praktikum. Es war sehr speziell. Es waren für mich andere Menschen, die in einer anderen Welt lebten. Ich wusste nicht, wie ich mit diesen Menschen umgehen sollte. Ich war schüchtern und zurückhaltend. Irgendwie war ich verloren.

Man beobachtet diese Schüchternheit auch bei Besuchern, die zum ersten Mal in der Sonnweid sind. Man hat manchmal das Gefühl, es sei eine Mischung aus Hilflosigkeit und Angst …

Dies war bei mir nicht der Fall. Ich wusste einfach nicht, was ich mit ihnen machen sollte. Ich musste lernen, dass ich mich nicht verstellen musste. Wenn man respektvoll und hilfsbereit ist, findet man sich schnell zurecht. Was mir sehr geholfen hat, war der Gedanke: «Wie wäre es, wenn ich selbst in dieser Situation wäre?» Ich würde mir auch wünschen, dass mir die Menschen mit Respekt und Empathie begegnen. Ich lernte auch viel über das Beobachten meiner Kolleginnen.

Nach dem Praktikum entschieden Sie sich für die Lehre als Fachfrau Betreuung. War es ein schwieriger Entscheid?

Nach dem Praktikum war es klar, dass ich die Lehre machen würde. Während der Lehre absolvierte ich ein Praktikum in einem anderen Altersheim, auf einer Station, in der keine Menschen mit Demenz lebten. Danach war es für mich erst recht klar, dass ich mit Menschen mit Demenz arbeiten wollte.

Warum?

Unsere Bewohner sind dankbarer. Wenn sie nicht mehr «danke» sagen können, zeigen sie es mit einem Lächeln. Im anderen Heim kam weniger zurück.

Welche besondere Unterstützung brauchten Sie, um eine gute Betreuerin zu werden?

Die Unterstützung des Teams. Ich war nie alleine. In der Lehre wechselt man alle sechs Monate die Abteilung und bekommt jeweils eine neue Berufsbildnerin. Diese sind sehr kompetent, sie haben mich sehr gut begleitet, auch wenn ich Fragen hatte zur Schule. Auch meine Familie hat mich immer unterstützt.

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Welche Betreuungs- oder Pflegemethode war besonders hilfreich?

Die Kinästhetik hilft uns sehr. Dank ihr können wir rückenschonend arbeiten, auch für den Bewohner selbst ist es angenehmer. Basale Stimulation finde ich auch sehr schön. Man kann sich auf den Bewohner konzentrieren, ihm die Körpergrenzen zurückgeben.

Und bei der Kommunikation?

Da brachte ich schon viel mit. Wenn man eine wertschätzende Haltung mitbringt, muss man nicht viel verändern.

Sind Sie in dieser Hinsicht familiär «vorbelastet»?

Ja, meine Eltern legten viel Wert darauf, dass man mit Menschen wertschätzend umgeht.

Wie erleben Sie junge Kolleginnen, denen dies in der Familie nicht vorgelebt wurde?

In der Berufsschule gab es einzelne Kolleginnen, die respektlos miteinander umgingen. Da fragte ich mich: Wie wollen sie im Betagtenbereich arbeiten, wenn sie so mit Menschen umgehen?

«Um eine gute Betreuerin zu werden, ist das Wichtigste die Sozialkompetenz. Wer sie mit 16 oder 17 Jahren nicht hat, wird es schwer haben.»

Was muss ein junger Mensch mitbringen, wenn er ein guter Betreuer werden will?

Das Wichtigste ist die Sozialkompetenz. Wer sie mit 16 oder 17 Jahren nicht hat, wird es schwer haben.

Wurden Sie in dieser Beziehung von der Grundschule gut vorbereitet?

Ich war in einer Klasse, die ziemlich schlimm war. Oft wurden Lehrer oder Mitschüler gemobbt. Ich war froh, als ich von der Schule gehen konnte. Gewisse verwöhnte Kinder glaubten, dass sie sich alles erlauben könnten. Die Lehrer machten es gut, aber das Thema «Sozialkompetenz» kam erst sehr spät, und es blieb nicht viel Zeit.

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In diesem Umfeld ist es wohl schwierig, junge Menschen zur Arbeit im Altersheim zu motivieren…

Frauen sind eher zu finden, aber von jungen Männern höre ich immer wieder: «Ich könnte das nie machen.» Sie haben das alte Bild, dass man die Bewohner aufnehmen und intim waschen muss. Aber es gibt ja in diesem Beruf viele andere Aufgaben.

Was müsste man in der Schule ändern, damit sich dieses falsche Bild verändert?

Es müssten alle mindestens einen Tag in einem Altersheim arbeiten. Viele Jugendliche wollen möglichst schnell viel Geld verdienen und machen eine kaufmännische Ausbildung.

Als junge Frau leben Sie in einer anderen Welt, als die Menschen, die Sie betreuen, früher gelebt haben. Ist es für Sie schwierig, sich in diese Welt und ihre Wertvorstellungen hineinzuversetzen?

Unsere Bewohner sind bescheidener. Sie sind mit wenig zufrieden – was bei meiner Generation leider weniger der Fall ist. Mit einer Demenz wird das Bedürfnis nach Besitz kleiner. Die menschlichen Grundbedürfnisse zählen mehr.

«Es gibt bei uns keine Routine. Jeder Tag ist anders und jeder Bewohner ist anders – von Tag zu Tag. Wenn man hier arbeiten will, muss man sich dessen bewusst sein – sonst ist man hier am falschen Ort.»

Sind Sie auch eine Detektivin?

Ja. Man will es ja möglichst gut machen. Dies bedeutet, dass man genau beobachtet und immer wieder neue Sachen ausprobiert. Vielleicht hat ja der eine oder andere Bewohner ein Bedürfnis, von dem wir noch nichts wussten.

Es ist 15 Uhr, und Sie gehen jetzt wieder an die Arbeit. Was gibt es zu tun?

Bei diesem schönen Wetter werde ich wohl mit den Bewohnern spazieren gehen. Am Nachmittag machen wir Aktivierung, entweder in einer 1:1-Betreuung oder in der Gruppe. Wir lesen Geschichten vor, machen Maniküre und so weiter.

Es kommt jetzt also die Kür der Betreuung…

Genau. Am Morgen steht die Pflege im Vordergrund, es folgt das Mittagessen und nach dem Dessert kommt die Aktivierung.