Engagement gegen das Altersghetto - demenzjournal.com

Generationenwohnen

Engagement gegen das Altersghetto

Voneinander lernen, Gemeinschaft schenken – darum geht es beim generationenverbindenden Leben.

Für ältere Menschen gibt es immer mehr Wohnangebote, die speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Gleichzeitig wünschen sich viele ein Wohnumfeld, wo sich die Generationen mischen. Ein Gespräch mit Generationenforscherin Pasqualina Perrig-Chiello nach den Ursprüngen dieser Sehnsucht.

Von Andreas Sidler, Age-Dossier

Frau Perrig-Chiello, wie stark sind Generationenbeziehungen heute noch?

Pasqualina Perrig-Chiello: Innerhalb der Familie herrscht nachweislich eine grosse Solidarität zwischen den Generationen. Das zeigt sich etwa in den kürzlich durchgeführten Studien des BAG über betreuende Angehörige.

Die Generationenbindungen innerhalb von Familien sind also so stark wie eh und je?

Sie sind stark geblieben, die Zahl dieser Bindungen nimmt aber ab. Die Anzahl Familienmitglieder wird im Durchschnitt kleiner und die Zahl von kinderlosen Personen steigt. Gesamtgesellschaftlich öffnet sich dadurch eine Lücke.

Können Nachbarinnen oder Mitbewohner in einer generationengemischten Wohngemeinschaft oder Siedlung diese Lücke bei den Generationenbeziehungen füllen?

Tatsächlich verändert sich der Familienbegriff derzeit. Und die Leute bilden Beziehungssysteme, die wie eine Familie funktionieren. Dennoch lässt sich die familiale Generationenbeziehung nicht so leicht ersetzen oder nachbilden.

Sie formt sich aus einer biografisch verankerten emotionalen Basis heraus und ist eine Bindung, der man selbst in einer konfliktbelasteten Familie nicht so leicht entkommen kann. In der Familie teilen die Generationen zudem eine gemeinsame Identität.

Auch Personen, die nicht blutsverwandt sind, werden als Familie bezeichnet.

Die Nachbarschaft hat im Gegensatz dazu eine sehr heterogene Struktur. Ich habe dort die Wahl und die Freiheit, mich zurückzuziehen oder sogar wegzuziehen. Mit der Nachbarschaft werden somit notgedrungen andere Erwartungen verbunden als mit der Familie.

Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin der Universität Bern und Präsidentin der Seniorenuniversität Bern.

Ergibt es denn aus gesellschaftlicher Sicht überhaupt einen Sinn, generationengemischte Wohnprojekte zu fördern?

Es ist für das soziale System gesund, wenn sich die Generationen und auch andere soziale Gruppen mischen. Eine verstärkte Segregation wäre unheilvoll.

Unsere Forschung zeigt, dass die Generationen ausserhalb der Familien immer weniger voneinander wissen. Und je weniger man voneinander weiss, desto eher entstehen Projektionsflächen für Ängste, für negative Stereotypen oder sogar für Feindbilder, dazu gehört z.B. das Bild vom reichen Alten, der sich in den Sozialwerken bedient.

Kontakte zu jüngeren oder älteren Nachbarn können dem entgegenwirken. Das ist umso wichtiger, weil wir in einer Viergenerationengesellschaft leben, aber keine Erfahrung damit haben. Wie das geht, müssen wir zuerst gemeinsam lernen.

Kontakte mit anderen Generationen werden auch von älteren Personen selbst gewünscht. Welche Erwartungen knüpfen sie daran?

Verschiedene. Eine zentrale Rolle spielt die Angst, im Alter ausgegrenzt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden.

«Altersghetto» ist ein oft gehörter Begriff. Wer in einer dem Alter zugewiesenen Umgebung wohnt, fühlt sich häufig stigmatisiert.

Nicht zuletzt auch von gleichaltrigen Personen, die sich vom negativ besetzten Altersbild abgrenzen möchten.

Der Wunsch nach einer altersgemischten Umgebung entspringt also vor allem der Ablehnung von Alterssiedlungen und Heimen?

Nicht nur. Verlust und Tod sind Themen, mit denen man sich im Alter auseinandersetzen muss. In einem Umfeld, wo nur alte Menschen leben, wird diese Auseinandersetzung vielfach und ständig reflektiert. Viele Menschen empfinden das als belastend. Die Auseinandersetzung mit jüngeren Menschen und ihren Bedürfnissen durchbricht dies.

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Die Älteren möchten durch die Jungen im Wohnumfeld dem Alter also ein Stück weit entkommen.

Ein Stück weit. Sie haben ein vitales Interesse, in einer generationengemischten Gemeinschaft zu leben, weil sie partizipieren und zumeist auch gerne etwas weitergeben möchten. Die Babyboomer werden oft als hedonistische Globetrotter beschrieben, dabei handelt es sich um eine Generation, die Generativität für sehr wichtig hält.

Was bedeutet Generativität?

Generativität meint die gegenseitige Sorge zwischen den Generationen. Für die Regulation ihres Wohlbefindens ist es für ältere Menschen wichtig, eine Aufgabe zu haben, etwas weitergeben zu können und gebraucht zu werden. Die Gesellschaft teilt dem Alter ja keine spezifischen Aufgaben mehr zu.

Das Interesse zum Kontakt mit jüngeren Menschen bedeutet auch, Information über Veränderungen in der Welt zu erhalten und Neues zu lernen.

Man wünscht sich den Austausch somit in beide Richtungen.

Wollen das die jüngeren Erwachsenen auch?

Sie wollen bestimmt nicht ungefragt belehrt werden. Sie sind in einer Lebensphase, wo sie ihre eigene Identität definieren müssen, und dafür müssen sie eigene Massstäbe entwickeln. Im Gegenzug sind sie aber auch sehr offen und haben Freude am Experimentieren und Ausloten von Möglichkeiten.

Die Familien Bodmer und Zweifel leben in der Bülacher Bergli-Siedlung Tür an Tür.Bild Ursula Meisser

Das kann man auch für Generationenkontakte nutzen. Praktisches Wissen wird gerne angenommen, zum Beispiel beim Urban Gardening, beim Kochen oder Handwerken. Aber ja, es gibt ein gewisses Ungleichgewicht, und das Bedürfnis nach Kontakten zu anderen Generationen ist bei den älteren Menschen ausgeprägter.

Ist die generationengemischte Nachbarschaft ein geeigneter Ort dafür?

Es muss das entsprechende Klima in der Nachbarschaft da sein, damit die Generationen den Draht zueinander finden. Es geht ja um mehr als nur um Fahrdienste zum Arzt oder Einkaufen während der Pandemie.

Generationenbeziehungen müssen immer ausgehandelt werden, und zwar explizit.

Dafür braucht es einen Anreiz und in der Regel auch jemanden, der die Fäden zusammenführt. Sonst warten alle darauf, dass der andere anklopft.

Deshalb kommt Vereinen und Interessengruppen in den Quartieren eine grosse Bedeutung zu. Sie machen Potenziale und auch Bedürfnisse in der Nachbarschaft für andere sichtbar. Bekommen Vereine und Gruppen in der Nachbarschaft Raum für ihre Aktivitäten, ist das hilfreich.

Während der Pandemie griffen viele Ältere oft lieber auf die Unterstützung durch Angehörige zurück als auf die Angebote der Nachbarn – auch in gut vernetzten Nachbarschaften.

In unserer Gesellschaft wird Unterstützung und Hilfe als private und nicht gesellschaftliche Aufgabe angesehen. In der Schweiz ist diese Haltung erstaunlich stark verankert, auch in den Köpfen der Menschen. Man erwartet, dass die Familie in erster Instanz hilft.

Diese Haltung könnte sich aber bald abschwächen, wenn neue Altersgenerationen allgemein weniger auf die Unterstützung durch die Familie zurückgreifen können. Sei es, weil sie vermehrt keine Kinder haben, sei es, weil die Familie weniger Mitglieder hat oder diese nicht abkömmlich sind.

Ältere Menschen, die in generationengemischte Siedlungen ziehen, werden somit zukünftig mehr nachbarschaftliche Unterstützung erwarten.

Die Hoffnung auf gegenseitige Hilfe ist bestimmt eine starke Motivation. Selbst wenn Nachbarschaft kein Familienersatz ist, kann sie Subsidiaritätsfunktionen übernehmen, auch was emotionale Bedürfnisse betrifft.

Das Bedürfnis, enge Beziehungen zu anderen Menschen zu haben, dazuzugehören, ist ein ursprüngliches.

Insbesondere im hohen Alter ist es wichtig, dass solche Beziehungen im nahen Umfeld gepflegt werden können, da man weniger mobil ist und geringere Freiheitsgrade besitzt. In Zeiten, wo Freundschaften immer mehr zu Wahlverwandtschaften werden, braucht es Nachbarschaftsstrukturen, in denen sich Beziehungen entwickeln lassen.

Befragungen zeigen aber, dass ältere alleinstehende Menschen mehr Mühe haben, Nachbarschaftskontakte zu knüpfen.

Ich glaube, dass man das differenzierter anschauen muss. So sind alleinstehende Frauen nicht einsam, nur weil sie alleinstehend sind. Gerade sie sind gut darin, Kontakte zu knüpfen und zu pflegen. Sie organisieren ihr Netzwerk meist gekonnt.

Alte Männer sind darin weniger routiniert, weil sie anders sozialisiert sind und bislang anders gelebt haben. Ich rechne mittelfristig auch damit, dass der von Ihnen erwähnte Zusammenhang schwächer wird.

Wir haben es bald mit einer neuen Generation alter Menschen zu tun, die sich oft bewusst dafür entschieden hat, kinderlos zu bleiben.

Diese Leute sind geübt darin, ihr Leben ohne Kernfamilie zu organisieren. Die Personen, die jetzt im hohen Alter sind, haben das oft nicht so gewählt und sind auch weniger gewohnt, Kontakte aufzubauen.

Aber auch das soziale Umfeld der gut Vernetzten schrumpft im Alter. Muss Grundlagendie generationendurchmischte Nachbarschaft den Alleinstehenden deshalb besondere Aufmerksamkeit schenken?

Wie in jedem sozialen System ist es wichtig, Potentiale zu erkennen, zum Beispiel das der alleinstehenden Frauen im hohen Alter. Aber das System muss das Potential auch aufnehmen können und es darf nicht einseitig geschehen.

Dazu gehört, dass man sich wahrgenommen fühlt, dass jemand nach dem Befinden fragt. Dann fühlt man sich getragen, und schon das ist ganz wichtig.

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Und schliesslich ist es immer auch eine Frage der Persönlichkeit. Es gibt solche, die zufrieden sind, wenn sie wissen, dass sie sich an der Nachbarschaft beteiligen und Kontakte pflegen können, wenn sie das möchten. Andere wollen mehr machen und sollen das auch können.

Aber kann man mit dieser Erwartung in eine neue Nachbarschaft einziehen?

Man kann hoffen, aber nicht erwarten. So kann man von niemandem erwarten, dass er sich stark für die Nachbarschaft engagiert oder sich auf engere Beziehungen einlässt. Aber man soll die eigenen Wünsche und Bedürfnisse kommunizieren können.

Gerade in generationengemischten Nachbarschaften sind unausgesprochene Erwartungen Gift. Kennt man die gegenseitigen Erwartungen, kann die Beziehung ausgehandelt werden.


Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello ist emeritierte Professorin der Universität Bern und Präsidentin der Seniorenuniversität Bern. Ihre Arbeitsschwerpunkte fokussieren Gesundheit und Wohlbefinden im mittleren und höheren Lebensalter sowie Generationenbeziehungen. Sie leitete das Nationale Forschungsprogramm 52 zu Generationenbeziehungen.




Die Age-Stiftung fördert Projekte zum Wohnen und zum Älterwerden. Wir danken der Age-Stiftung für die Gelegenheit zur Zweitverwertung.