Von Andrea Mertes, Mut – Magazin für Lösungen
Siegbert Rudolph hatte einmal das grosse Sagen. 40 Jahre war der Betriebswirt bei einem IT-Dienstleister für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte angestellt, zuletzt als stellvertretender Vorstandsvorsitzender.
Die rund 1800 Mitarbeiter in seinem Zuständigkeitsbereich taten, was er ihnen sagte. Manchmal taten sie es auch nicht. Dann konnte er streng werden. «Geduld ist nicht meine Stärke», sagt er und lacht, wenn er sich erinnert, wie er war: ein Manager mit hohen Ansprüchen.
Seine ehemaligen Mitarbeiter fragen sich manchmal, wie es sein kann, dass er heute so viel Geduld hat.
Stundenlang übt er mit Dreikäsehochs Lesen und Schreiben. Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe. Stammelnd erst und tastend, langsam flüssiger werdend, irgendwann verständlich. Bis ein Kind, das die Gesellschaft unter dem Label «Lese-Rechtschreib-Störung» abgeschrieben hätte, doch noch den Zugang zur geschriebenen Sprache findet. Und damit eine Zukunft hat.
Wenn also ein ehemaliger Mitarbeiter fragt, woher Rudolph die Geduld hat, antwortet der 75-Jährige: «Weil so ein Kind ein kleines Würschtle ist. Ihr wart ausgebildete Kaufleute und Betriebswirte. Von euch konnte ich mehr verlangen.»