«Wenn etwas nicht geht, ist mein Interesse geweckt» - demenzjournal.com

Die Aktiven

«Wenn etwas nicht geht, ist mein Interesse geweckt»

Geduld musste er erst lernen. Siegbert Rudolph übt mit Harun Lesen an der Pestalozzi-Schule in Oberasbach. Bild Uli Reinhardt

Was tun Führungskräfte, wenn sie in Rente gehen? Golfen? Kochen lernen? Siegbert Rudolph macht es anders. Und findet im Ruhestand die Rolle seines Lebens.

Von Andrea Mertes, Mut – Magazin für Lösungen

Siegbert Rudolph hatte einmal das grosse Sagen. 40 Jahre war der Betriebswirt bei einem IT-Dienstleister für Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Rechtsanwälte angestellt, zuletzt als stellvertretender Vorstandsvorsitzender.

Die rund 1800 Mitarbeiter in seinem Zuständigkeitsbereich taten, was er ihnen sagte. Manchmal taten sie es auch nicht. Dann konnte er streng werden. «Geduld ist nicht meine Stärke», sagt er und lacht, wenn er sich erinnert, wie er war: ein Manager mit hohen Ansprüchen.

Seine ehemaligen Mitarbeiter fragen sich manchmal, wie es sein kann, dass er heute so viel Geduld hat.

Stundenlang übt er mit Dreikäsehochs Lesen und Schreiben. Buchstabe für Buchstabe, Silbe für Silbe. Stammelnd erst und tastend, langsam flüssiger werdend, irgendwann verständlich. Bis ein Kind, das die Gesellschaft unter dem Label «Lese-Rechtschreib-Störung» abgeschrieben hätte, doch noch den Zugang zur geschriebenen Sprache findet. Und damit eine Zukunft hat.

Wenn also ein ehemaliger Mitarbeiter fragt, woher Rudolph die Geduld hat, antwortet der 75-Jährige: «Weil so ein Kind ein kleines Würschtle ist. Ihr wart ausgebildete Kaufleute und Betriebswirte. Von euch konnte ich mehr verlangen.»

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Was tun Führungskräfte, wenn sie in Rente gehen? Macht abzugeben ist nicht leicht. Nicht jeder pensionierte Manager bekommt das hin. Auch für Siegbert Rudolph war an seinem 65. Geburtstag nicht klar, dass er Schülern das Lesen beibringen würde. Sein ursprünglicher Plan: Kochen lernen. «Nicht in meiner Küche!», meinte die Gattin. Und Rudolph suchte sich eine andere Beschäftigung.

Er stieg bei den «Aktivsenioren Bayern» ein, die unter anderem Existenzgründer beraten. Lernte bei einem Bewerbungstraining die 14 Jahre alte Nadine kennen und merkte, dass sie nicht lesen konnte. «Sie ist Legasthenikerin», erklärte die zuständige Lehrerin. «Legastheniker können nicht lesen.»

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Das wollte der Ex-Manager nicht glauben. «Wenn mir jemand sagt, dass etwas nicht geht, ist mein Interesse geweckt. Dass jemand von der Schule geht, ohne lesen zu können – das geht gar nicht.» So fing es an. Es wurde die Aufgabe seines Lebens.

Rudolph begann, mit Nadine zu üben. Für erste Versuche legte er ihr die Lokalzeitung hin – keine gute Idee, wie sich herausstellte. Das Mädchen taumelte durch die Buchstabenseiten. Zu viel Text schüchtert ein. «Ich hab’ es vereinfacht.» Er entwickelte Übungen und setzte sie in Powerpoint um.

Lernen durch Anklicken: Satz für Satz, Wort für Wort, Silbe für Silbe. So langsam, dass Zeit zum Mitdenken und Mitsprechen bleibt.

Nach 180 Stunden konnte Nadine aus den 26 Buchstaben eine Welt herauslesen. Sie bekam einen Ausbildungsplatz und ist heute Mechatronikerin. Zum Dank lädt sie ihren Mentor und seine Frau nach jeder Gehaltserhöhung zum Essen ein.

Nach dem ersten Erfolg hatte er Feuer gefangen und stellte sein Konzept an Schulen vor, besuchte Legasthenie-Kongresse, ackerte sich durch Fachliteratur und entdeckte sein Reservoir an Geduld: «Wenn ich einen Schüler übernehme, bin ich nicht frustriert, wenn er in der vierten Stunde immer noch genauso miserabel liest wie am Anfang. Ich weiss, dass wir es schaffen.»

Seit 2010 hat er 100 Kinder zur Sprache gebracht und 1000 Übungen entwickelt, allesamt gratis auf seiner Website «Lesekoch» zu finden. Andere schliessen sich an: In der Region Mittelfranken arbeiten rund 40 Lesepaten mit seinen Übungen, im Netz sind fast 500 Mitstreiter registriert.

2018 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Doch wer glaubt, einen wie ihn mit einer Auszeichnung abspeisen zu können, hat sich verkalkuliert. Dafür war Siegbert Rudolph viel zu lange Alphatier. Die Rolle des freundlichen älteren Herrn, der Nachhilfe gibt, füllt ihn nicht aus.

Aus dem Quereinsteiger ist ein Kritiker der Bildungspolitik geworden.

Seine Argumente trägt er mittlerweile auch vor Fachpublikum vor. Das System ändern: Das würde Siegbert Rudolph am liebsten. Wer einmal das grosse Sagen hatte, mag sich nicht mit weniger bescheiden.


Dieser Artikel erschien im Herbst 2019 im Mut – Magazin für Lösungen. Wir bedanken uns bei der Redaktion für die Gelegenheit zur Zweiverwertung.