«Zum natürlichen Heimweh kommt das trostlose Wetter» - demenzjournal.com

Emigrantinnen

«Zum natürlichen Heimweh kommt das trostlose Wetter»

Um die Mitte des letzten Jahrhunderts zogen zehntausende von jungen Schweizerinnen als Hausangestellte nach England. Einige verliebten sich dort und kehrten nicht mehr zurück. Die Autorin Simone Müller und die Fotografin Mara Truog haben elf dieser mittlerweile sehr alten Emigrantinnen porträtiert.

In den frühen 1950er-Jahren sorgte eine lebhafte Milchfrau für Aufsehen in der behäbigen Berner Provinz Oberaargau.

Die junge «Chüjerin» (Berndeutsch für Molkeristin oder Milchfrau) hiess Sylvia und kam aus England. Sie half der Chüjers-Familie Plüss im Betrieb, beim Verteilen der Milch und im Haushalt. Bald fand die gesprächige und lustige Sylvia Kontakt zur einheimischen Jugend.

Meine Mutter, die in der Sekundarschule und in der Lehre zur Kauffrau Englisch gelernt hatte, wurde ihre Freundin. Nachdem Sylvia nach England zurückgekehrt war, pflegten die beiden eine Brieffreundschaft.

Sylvia schrieb meiner Mutter, sie könne ihr eine Stelle als Haushälterin und Kinderbetreuerin vermitteln. Also reiste meine Mutter 1957 in den Nordwesten Englands. Die ersten Nächte verbrachte sie im Dörfchen Little Budworth in einem Gasthaus. Sie begleitete Sylvia auf die Milchtour durch die Umgebung.

Sylvia fragte mehrere ihrer Kunden, ob sie ein Schweizer Mädchen haben wollten, das ihnen den Haushalt macht. Molly und Roy sagten spontan zu, und meine Mutter blieb ein Jahr lang in ihrem Haus, das neben der Rennstrecke Oulton Park lag.

Bruce-Weber, Parsons-Biedermann, Webb-Eggen, Gibbs-Schwaninger, Salt-Behnd:

Diese englisch-schweizerischen Familiennamen entstanden Jahrzehnte bevor man Begriffe wie «Personenfreizügigkeit» oder «Globalisierung» kannte.

Sie sind Zeuge einer Schweizer Emigrationsgeschichte. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts zogen jährlich bis zu 7000 junge Schweizerinnen nach England, wo sie als Hausangestellte und Au-pair arbeiteten. In der Schweiz ist sich heute kaum mehr jemand dieses Massenphänomens bewusst. Es gibt keine historischen Publikationen dazu.   

Die Autorin Simone Müller und die Fotografin Mara Truog sind auf Spurensuche gegangen. Sie besuchten und porträtierten elf Schweizer «Mädchen», die nicht mehr in die Schweiz zurückgekehrt sind. Auf diese Weise ist das Buch «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England» entstanden.

Das Cover des Buches.Mara Truog, Limmat Verlag

Da ist zum Beispiel Anna-Maria Webb-Eggen (Jahrgang 1930) aus Zweiselberg im Kanton Bern. Ihre definitive Übersiedlung nach England hätte 1954 beinahe im Hafen von Dover geendet, weil sie keine Aufenthaltsbewilligung vorweisen konnte.

Anna-Maria erklärte den Beamten, dass sie bereits in England gewesen sei. Sie sei schwanger und der Vater des Kindes warte am Londoner Bahnhof Victoria. Sie versprach den Beamten, sie werde innert drei Wochen heiraten.

Heute lebt Anna-Maria mit ihrem Partner Alan in Chelmsford, nordöstlich von London. In ihrem Reihenhäuschen gibt es Teller zum Thronjubiläum der Queen und einen Bergkristall auf einem Holzfuss mit der Inschrift «Gästeschiessen Aeschi».

Anna-Maria spricht noch immer akzentfreies Berndeutsch, doch das eine oder andere Wort fällt ihr nicht mehr auf Anhieb ein.

Die Frau aus Zweiselberg hat eine bewegte und traurige Geschichte zu erzählen: Mit Narinder, einem in England lebenden Sikh aus Indien, hatte sie fünf Kinder. 1977 reiste er nach Indien, um seine kranke Mutter zu besuchen.

Zwei Wochen später schrieb er ihr, dass er nicht mehr zurückkehre. Es stellte sich heraus, dass Narinder Schulden gemacht und an seinem Arbeitsplatz bei British Rail Geld unterschlagen hatte.

Drei Jahre später zieht Anna-Marias Sohn Arwinder ohne Vorwarnung aus und meldet sich nie wieder. Im gleichen Jahr heiratet Anna-Maria Cyrill, der kurze Zeit später stirbt. Seit Mitte der neunziger Jahre lebt sie «in Sünde» mit ihrem neuen Partner Alan.

Im Unterschied zu den im Buch porträtierten Schweizerinnen blieb meine Mutter nicht in England. Es habe schon Männer gegeben, die um sie geworben hätten, sagt sie. Zum Beispiel der rothaarige Jockey Johnny aus Irland, der auf einem Anwesen in der Nachbarschaft arbeitete.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Meine Mutter wies ihn nicht nur wegen seiner geringen Grösse in die Schranken, sondern weil sie damals bereits mit meinem Vater liiert war, der zu Hause auf sie wartete.

Die Brieffreundschaft mit Sylvia besteht noch immer. Es gibt auch die Tradition, dass sich die beiden mittlerweile über 80-jährigen Frauen zu Weihnachten beschenken. Vor einigen Jahren schickte die etwas schusselig gewordene Sylvia einen Skianzug, der meiner Mutter viel zu gross war.

Dies wird meine Mutter nicht daran hindern, ihr auch zu den kommenden Weihnachten etwas zu schicken.


Simone Müller, «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen nach England», Die vergessenen Schweizer Emigrantinnen, 11 Porträts, mit Fotografien von Mara Truog, 256 Seiten, gebunden, 59 Fotografien und Dokumente, Limmat Verlag 2017.

Quellen

«Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jungen Mädchen in Scharen gegen England an eine Haushaltsstelle», Thurgauer Zeitung, 1956.

«Zum natürlichen Heimweh kommt das trostlose Wetter, und dann entwickelt sich jene Panik, die oft ins Verderben führt», in: «Das Englandjahr», Merkblatt Verein «Freundinnen junger Mädchen», 1959.

Simone Müller, geboren 1967 in Boston (USA), aufgewachsen in Bern. Studium der Germanistik und Ethnologie in Bern und Wien, 2003 bis 2005 lebte sie in London. Simone lebt als freie Journalistin und Autorin in Bern.

Mara Truog, geboren 1977 in Bern, studierte in London und Zürich Fotografie. Mehrere Ausstellungen und Publikationen zum Thema Alter und Frauen. 2016 wurde sie dafür mit dem Swiss Press Award ausgezeichnet. Sie lebt als freischaffende Fotografin in Zürich und arbeitet unter anderem für die Plattform alzheimer.ch.