Schwarze Löcher - demenzjournal.com

Eine kurze Geschichte

Schwarze Löcher

Schwarze Löcher besitzen eine dermassen hohe Anziehungskraft, dass sie alles in ihrer Umgebung verschlingen, sogar das Licht. PD

Man kann sie zählen, die Schwarzen Löcher, sagt er. Vor ein paar Monaten waren es noch elf, heute sind es mindestens 25. Sie sind wie Staubsauger, selbst das Licht ist vor ihnen nicht sicher, und dann wird es in seinem Kopf plötzlich finster.

Schwarze Löcher schlucken Fahrkarten, Schlüssel, Unterhosen. Immer öfter auch Wörter. Dann muss er sich anders behelfen, so gut er kann. Er sagt Schiesskugel statt Fussball, Zuckerecke statt Kuchen. Eines Tages, sagt er, verschwindet der ganze Kopf in einem schwarzen Loch.

Er war Ingenieur gewesen, jemand, der es gewohnt ist, sein Leben zu planen. Bevor er mit seiner Familie in den Urlaub fuhr, machte er lange Listen, was alles zu erledigen war, und der letzte Punkt lautete: Abfahren. Er kam nie zu spät, ging auch niemals fremd, so etwas lag ausserhalb seines Koordinatensystems.

In der Milchstrasse gibt es deutlich mehr Schwarze Löcher, als bislang angenommen wurde. Ständig werden neue Löcher entdeckt, die alles auf ihrem Weg verschlingen. Als sein Kopf ihm noch nicht abhanden gekommen war, hatte er sich für Astronomie interessiert.

Damals wusste er, dass es ein gigantisches Loch am Mittelpunkt der Milchstrasse gibt, umhüllt von Gas- und Nebelwolken, eingebettet in Sternenstaub. Es liegt im Sternbild Schütze und heisst Sagittarius A. Er kann sich den Namen nicht mehr merken und sagt einfach A. Manchmal sagt er auch Arschloch. «Meine Socke ist im Arschloch verschwunden.»

Vor einem Jahr hatte er sich auf dem Flughafen verirrt. Er war mit seiner Frau auf dem Weg nach Marseille gewesen, Umsteigen in Paris Charles de Gaulle. Er ging zur Toilette und fand danach das Gate nicht mehr. Seine Frau liess ihn ausrufen, er kam nicht, die Zeit wurde knapp.

Im letzten Moment fand er zurück, Gate 13. 13 war seine Glückszahl gewesen, manchmal erinnert er sich daran, manchmal nicht.

Es gibt Inseln in seinem Kopf, die meist im Nebel liegen, plötzlich aber ganz klar aufscheinen. Offenbar sind sie weit genug von den Schwarzen Löchern entfernt.

Seit kurzem wohnt er mit seiner Frau in einem kleinen Apartment im Altenheim. Dafür sind sie von Lübeck nach Süddeutschland umgezogen, wo ihre Tochter lebt. Die wenigen verbliebenen Möbel transportierte ein Umzugswagen. Vorher erkundigte er sich immer wieder bei seiner Frau, wann denn der Zug abfährt.

Jedes Mal antwortete sie ihm geduldig: «Acht Uhr zwanzig». Zu seiner Tochter sagte er später verärgert, sie hätten nicht einmal frühstücken können. «Natürlich habt ihr gefrühstückt», antwortete sie. Sie spricht in einfachen, kurzen Sätzen mit ihm. Oft wird er wütend und sagt zu ihr, er sei doch kein Kind.

Seit sie in Süddeutschland wohnen, ist die Zahl der Schwarzen Löcher in seinem Kopf deutlich angewachsen, meint er. Wenn er morgens aufwacht, weiss er häufig nicht, wo er ist. Ausserdem ist ihr ganzes Geld jetzt futsch, verschwunden in einem Schwarzen Loch.

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Was das Loch wohl damit anstellt, überlegt er, wozu braucht es Geld? Beunruhigt fragt er seine Frau, ob sie bald verhungern müssen. Sie antwortet ihm, ungefähr zwanzig mal am Tag, es sei genug Geld da. Dann fragte er sie wieder. Manchmal nennt er sie Birgit, dann Waltraud, dann Heidemarie.

Als sein Kopf noch keine Löcher hatte, konnte er Spanisch und Französisch sprechen. Er hat die Sprachen erst spät gelernt. Oft fragt er sich, wo das alles geblieben ist, irgendwo mussten die Wörter doch sein? Er möchte versuchen, sie wiederzufinden, so wie einen Schatz, der vergraben ist. Nur weiss er nicht, wo er suchen soll.

Oft sagt er zu seiner Frau, sein Kopf fühle sich ganz anders an als früher, als sässe da ein Fremder auf seinem Hals.

Ob der Kopf denn auch anders aussieht, will er von ihr wissen. Sie mustert ihn liebevoll und antwortet: «Du siehst aus, wie immer.»

Manchmal wunderte sie sich selbst, dass man ihm nichts ansieht. Seine braunen Augen hinter der dicken Brille Augen blicken forschend in die Welt, der Mund ist gross, fast sinnlich, nur die Wangen sehen brüchig aus, wie altes Papier.

Freunde, die das Paar im Heim besuchen, sagen, er sähe gut aus. Beim Essen macht er kleine Witze, wie er es früher auch getan hat, und die anderen lachen. Später hat er den Witz dann wieder vergessen, er ist im Schwarzen Loch gelandet. Wenn die Freunde darauf anspielen, kann er nichts damit anfangen.

Dann erzählt er einen neuen Witz. Die Gesellschaft der Freunde tut ihm gut. In solchen Momenten hat er das Gefühl, er könne den Kampf mit den Schwarzen Löchern aufnehmen. In anderen Momenten kommt es ihm so vor, als würde er fallen, ganz tief.

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Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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In Lübeck hatten sie im Erdgeschoss gewohnt. Jetzt sind sie in einem Apartment im zwölften Stock mit herrlichem Blick über Wiesen und Felder. Manchmal sagt er zu seiner Frau, er wolle sich vom Balkon stürzen, er sei eine Last für sie, und ohne sie könne er sowieso nichts mehr anfangen.

Jedes Mal erschreckt sie, wenn er so spricht. 

Würden meine Beine streiken, könnte ich damit leben, meint er, aber der Kopf, das geht nicht.

Seine Tochter sagt, sie müssten so schnell wie möglich in eine Wohnung im Erdgeschoss ziehen.

An manchen Tagen weiß er ganz genau, was seine Frau gerade gesagt hat. Heute Abend gibt es Kartoffelsalat und Würstchen. Er fragt sie, wann sie denn zum Essen gehen würden, um Kartoffelsalat und Würstchen zu essen. Sie ist irritiert.

Vielleicht weiss er doch mehr, als sie glaubt? Womöglich ahnt er, dass sie oft unendlich müde ist vom ständigen Wiederholen. Wie gut kennt sie überhaupt den Mann, mit dem sie seit mehr als 50 Jahren zusammenlebt?

Jeden Abend blättert er in einem Münzalbum, das er angeschafft hat, nachdem der Euro eingeführt worden war. Alles Zwei-Euro-Münzen. Lübeck mit dem Holstentor, Bayern mit Schloss Neuschwanstein. Spanien mit vielen Brücken, irgendwas mit A, aber nicht Arschloch, er kommt nicht auf das Wort Aquädukt.

Jedes Mal wundert er sich, dass es so viele Bundesländer in Deutschland gibt. Er liest die Namen von den Münzen ab und hat für einen Moment das Gefühl, er wisse Bescheid. War da was mit seinem Kopf? Bei Belgien und Irland gibt es noch Lücken in seinem Album, dafür hat er Knöpfe in die leeren Fächer gesteckt, die er aus dem Nähkästchen seiner Frau genommen hat.

Unser Sonnensystem fliegt in einem Abstand von 26’000 Lichtjahren um das zentrale galaktische Loch in der Milchstraße herum. Also keine Gefahr für die Erde, verschlungen zu werden, für ihn, für seine Frau, seine Tochter. Früher wusste er das genau. Heute ist er sich nicht mehr so sicher.

In seinem Kopf ist die Zahl der Schwarzen Löcher mittlerweile auf 38 angewachsen, glaubt er. Besonders beim Aufwachen fühlt sich das Teil auf seinem Hals komisch an. Am liebsten, sagt er zu seiner Frau, hätte er einen neuen Kopf, das wär’s.