Endstation Krankenhaus - demenzjournal.com

Hautnah

Endstation Krankenhaus

«Ärzte und das Pflegepersonal müssen wissen, dass es für Menschen mit Demenz der pure Stress ist, im Krankenhaus zu sein.» PD

So segensreich moderne Apparaturen, digitale Hilfsmittel und gut ausgebildetes Personal in Kliniken auch sein mögen – Empathie und Mitgefühl im Umgang mit Patienten und Patientinnen ersetzen sie nicht. Ein Erfahrungsbericht.

Schon als ich die Tür zum Krankenzimmer öffne, spüre ich, dass etwas passiert ist. Meine Mutter, die mich sonst immer mit einem Lächeln begrüsst hat, liegt apathisch im Bett und schaut mich kaum an.

Mein Vater, den so leicht nichts aus der Fassung bringt, steht am Fenster und blickt gestresst auf die Schwester, die gerade die Decke über die Beine meiner Mutter schlägt – und über frische Blutflecken auf dem Laken

So manches kostet kein Geld

Pflegekräfte verdienen zu wenig, das steht ausser Frage. Dabei sind sie oft im Laufschritt unterwegs, arbeiten am Limit und sind gestresst. Dennoch möchten wir erwarten, dass sich Kliniken auf demenzkranke Menschen einstellen, auch wenn diese Patienten mehr Zeit und Zuwendung benötigen.

Ärzte und das Pflegepersonal müssen wissen, dass es für Demenzkranke der pure Stress ist, im Krankenhaus zu sein. Speziell im Stadium der fortgeschrittenen Demenz darf man sie auf keinen Fall mit einer Schlaftablette allein lassen. Sowie sie aufwachen, sind sie orientierungslos und voller Angst.

Übrigens: So manches kostet kein Geld und kaum Zeit, ob die Patienten nun demenzkrank sind oder nicht: Einen Augenblick die Hand halten, kann Wunder wirken. Ebenso ein Lächeln übers Essenstablett hinweg, beim Waschen, Bettenmachen oder Temperaturmessen. (ue)

«Was ist denn hier los?», will ich wissen. 
«Wir mussten einen Katheter legen», sagt die Schwester und geht raus.
«Warum?», rufe ich ihr hinterher, aber sie ist schon weg. Die Mutter ist demenzkrank, aber nicht inkontinent. Mein Vater hebt ratlos die Arme, die Ärztin habe das angeordnet. 

Bei meiner Mutter wurde vor acht Jahren Demenz diagnostiziert. Von da an wussten wir, warum ihr oft Wörter fehlten, warum sie unsicher wirkte, wenn wir mit Freunden zusammensassen. Sie blieb lieb in ihrer Demenz, wurde bloss stiller. Schon immer war sie ein grundehrlicher Mensch und nicht in der Lage, Sympathie zu heucheln.

Jetzt wurde sie direkter: Die kann ich nicht leiden, sagte sie über die Bekannte, die so viel redete. Du bist lieb, zum Enkel, der sich auf ihren Schoss setzte. Das schmeckt gut oder das mag ich nicht, beim Essen. Und in der Badewanne konnte sie sich freuen wie ein Kind: Schön warm!

Was Mutter Elke nicht mehr drauf hatte, übernahm Vater Erich, immerhin schon achtzig Jahre alt. Wäsche waschen, Betten beziehen, einkaufen, kochen. Bei allem, was er tat, stand sie neben ihm. Zog er seine Schuhe an, tat sie es auch. Setzte er sich vor den Fernseher, setzte sie sich neben ihn. 

Sie waren 55 Jahre verheiratet und unzertrennlicher denn je. Hand in Hand gingen sie zum Bäcker, zum Arzt, in die Apotheke. Jeden Nachmittag spazierten sie durch Weinberge und Streuobstwiesen. Zusammen hatten sie ein Geschäft aufgebaut und erfolgreich geführt. Ein Dreamteam. Vier Kinder, acht Enkel.

Weihnachten 2016 war ihr letztes und eines der schönsten Feste, weil so viel gesungen wurde und zwei Enkel mit Gitarre und Klavier die Lieder begleiteten. Stundenlang, weil dann die Oma lächelte und so glücklich aussah.

Bis in den März hinein sangen wir Weihnachtslieder, sie sass gelöst auf dem Sofa und sang mit.

Doch der Samstag Ende Mai beginnt mit einem Misston. Wie an jedem Wochenende helfe ich meiner Mutter in die Badewanne. Es ist ein Ritual. Nachdem sie sich ausgezogen und die Kleider ordentlich gefaltet in den Wäschekorb gelegt hat, steigt sie in die Wanne und lehnt sich zurück – schön warm!

Ich wasche ihr die Haare und warte, bis sie wieder aus der Wanne will. Abtrocknen, eincremen, Fuss- und Fingernägel schneiden, du bist lieb. Wir benutzen Deo und einen Hauch Parfüm. «Damit du duftest für Papa», sage ich und sie lächelt. Im Wohnzimmer sagt er: «Du bist schön.» 

Die Familie am Spitalbett der Mutter.Uschi Entenmann

Alles wie immer. Ausser diesem tiefen und hartnäckigen Husten! Am Sonntagabend hat er sich so verschlimmert, dass mein Bruder Bernd unsere Mutter in die Notaufnahme einer Klinik bringt. Es ist nicht viel los, sie sind bald dran: Blutabnahme, EKG und Röntgen.

Zwei Stunden später schickt er eine SMS: «Mama muss über Nacht hierbleiben. Sie hat Wasser in der Lunge und wird punktiert. Danach Ultraschall. Sie geben ihr ein Schlafmittel und meinen, das sei kein Problem.» Kein Problem? Mein Vater setzt sich sofort ins Auto und fährt in die Klinik.

Ich simse zurück: «Die kennen sich nicht aus mit Demenz. Wenn sie aufwacht, kriegt sie Angst. Ich bleibe bei ihr.» Mein Bruder: «Sie haben mich aus dem Zimmer gescheucht, bin auf dem Rückweg. Papa ist bei ihr, bis sie eingeschlafen ist.»

Als ich kurz vor 22 Uhr ins Zimmer komme, hat sich ein Drama abgespielt. Mein Vater berichtet, dass sie eine Infusion bekommen hat, die den Körper entwässern soll. Folge ist, dass sie ständig aufs Klo muss. Einmal kommt die Schwester und hilft wegen der Infusion.

Eine Viertelstunde später muss sie wieder – Schwester und Ärztin beschliessen daraufhin, einen Blasenkatheter zu legen.

Die Schwester schiebt die Beine meiner Mutter auseinander, die von nackter Panik ergriffen wird, weil sie keine Ahnung hat, was mit ihr geschieht.

Sie schubst die Schwester weg. Die wird laut: Es müsse sein, sie solle stillhalten. Doch meine Mutter klammert sich an die Arme der Schwester, ruft «nein!», schaut flehend meinen Vater an, der hilflos dasteht. Die Schwester drückt ihr mit Kraft die Beine auseinander und schiebt den Katheter trotz heftiger Gegenwehr in die Blase, es blutet, es tut weh. 

«Sie hat mich so verzweifelt angesehen», sagt mein Vater. «Ich habe nichts gemacht, ich dachte, das muss jetzt sein.» 

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Ich bleibe bei ihr. Mein Vater fährt heim. Sie muss wieder aufs Klo. Ich bitte die Schwester, den Katheter herauszunehmen. Sie tut es, als ich verspreche, zu bleiben und sie zur Toilette zu bringen. Sie muss jede Viertelstunde.

Warum, so frage ich mich, hat man ihr ausgerechnet am Abend ein Entwässerungsmittel gegeben?

Im Laufe der Nacht muss ich zusehen, wie ihr die Kräfte schwinden. Am Morgen ist sie völlig erschöpft, bemerkt nicht einmal, dass mein Vater wieder im Zimmer steht. Sie kann kaum noch gehen und sprechen. Als wäre seit gestern Abend ein Hebel umgelegt. 

In den folgenden Tagen werden ihre Lunge punktiert und vier Liter Flüssigkeit entnommen. Inzwischen liegt sie auf der sogenannten Komfortstationdie ­Zusatzversicherung meines Vaters trägt. Wir bekommen eine Schlafliege und können Tag und Nacht bei ihr sein.

Aber sie wird immer schwächer. Dabei fährt die Klinik alles auf, was ihre Apparate hergeben: Magnetresonanztomografie, Ultraschall, Elektro­kardiogramm. Immer wieder. Wir richten einen Geschwister-Chat ein, auf dem wir uns gegenseitig informieren.

24. Mai, dritter Tag in der Klinik, ich schreibe:

«Sie verabschiedet sich. Sie isst und trinkt nicht, kauert im Bett und döst, öffnet kurz die Augen und schaut verängstigt. Ich habe ihren Arm gestreichelt, sie hat meine Hand weggeschoben. Das tat sie noch nie. Sie ist anders. Sie ist weniger. Und noch vor vier Tagen konnte sie täglich stundenlang marschieren.»

Nach fünf Tagen erklärt uns die Stationsärztin, dass wir heimgehen dürfen. Im Lungenwasser wären bösartige Krebszellen. Aber wir sollten auf den Chefarzt warten. Der kommt eine Stunde später mit ­Jung ­Ärzten im Schlepptau, wir sehen ihn zum ersten Mal.

Ich frage ihn, was für einen Krebs meine Mutter hat. Er bürstet mich regelrecht ab: Um das herauszufinden, wären aufwändige, unangenehme und schmerz­hafte Untersuchungen nötig, ob wir das unserer ­Mutter wirklich noch zumuten möchten, in ihrem Zustand? Man könne nichts mehr tun.

Ich habe trotzdem noch eine Frage. Wir wüssten nicht, wie schnell das Wasser in die Lunge nachläuft. Heute sei Freitag und ich hätte Sorge, dass wir am Sonntag wieder in der Notaufnahme sein würden, weil die Mutter keine Luft mehr kriegte. 

Er sei nicht der liebe Gott, herrscht der Arzt mich an, woher er das denn wissen solle. Wir verlassen die Komfortstation und nehmen ­meine Mutter mit.

Daheim kümmert sich unser Hausarzt um sie – ohne jede Apparatur, dafür behutsam und einfühlsam. Klaglos lässt sich unsere Mutter die Lungen abhorchen und den Rücken abklopfen. Da sei kein Wasser nachgelaufen, beruhigt er uns. Als ich vom Katheter-Drama in der Klinik berichte, schüttelt er nur den Kopf. «Ich päpple sie wieder auf», sagt mein Vater, der wieder Hoffnung schöpft.

Sie bekommt ein Pflegebett, einen Rollstuhl und einen Lift für die Badewanne, aber sie braucht nur noch das Pflegebett.

Jeden Tag kommen Pflegerinnen der Sozialstation, drei freundliche Frauen, die sich abwechseln. Sorgfältig und vorsichtig wird sie gewaschen.

Jede erklärt meiner Mutter leise, was sie als Nächstes tut, auch dann noch, als sie Morphiumpflaster bekommt und die Augen nicht mehr öffnet. Auch unser Hausarzt schaut fast jeden Tag herein. 

So hat das lange Leben meiner Mutter noch ein versöhnliches Ende gefunden, als sie am 15. Juni um zwölf Uhr mittags aufhört zu atmen.