Kurt H. zieht sich die Tanzschuhe an. Es fällt dem 95-Jährigen nicht gerade leicht, die schwarzen Treter zu schnüren, doch er lässt es sich nicht nehmen. So hat er es die letzten 70 Jahre immer gehalten. Kurt ist leidenschaftlicher Tänzer und stets bereit, wenn die Musikmamsell zum Tanz aufbietet.

Dann machen sich Betroffene, Angehörige und Pflegehilfen auf den Weg nach Zürich-Oerlikon ins Restaurant Binzgarten. Oft sind es gegen 70 Leute, manchmal auch etwas weniger.

Die Musikmamsell lässt sich von Kurt H. übers Parkett führen.Bild M. May

«Die Beiz ist vielleicht nicht die schönste, aber die Lage, die Nähe zum Bahnhof und die Grösse des Raumes sind ideal», sagt Verena Speck.

Gemeinsam mit Nostalgie-DJ Alexander lädt die ehemalige Radio-Frau und heutige Musikmamsell einmal im Monat ins Tanzcafé.

Kurt H. ist zum Tanzen hier. Er sei nicht zum «Schätzeln» gekommen, wie andere vielleicht. Er liebe die Musik, er brauche sie wie die Luft zum Atmen. Und er ist ein begnadeter Tänzer, mit schlaksig-schlanker Figur, in weissem Hemd und schwarzer Hose.

Gekonnt nimmt er die Musikmamsell in die Arme, dreht sie um die Achse und führt sie mit traumtänzerischer Sicherheit durch die nächsten Schritte. Sein Lieblingslied ist «Spanish Eyes». Früher sei es einmal «Portofino» gewesen, «aber der Rumba ist meinem Alter angemessener».

Seit fünf Jahren kommt Kurt regelmässig ins Tanzcafé. Einmal, als er sich von einer Operation erholte, kam er sogar mit dem Rollator. Der Arzt habe ihm längst verboten, sich zu sehr anzustrengen. Diese Tanznachmittage seien nun wirklich nichts mehr für einen 95-Jährigen.

«Ich tue, was mir gut tut, da können die Ärzte noch lange lamentieren.»

Kurt H.

Kurt H.s Frau hatte Alzheimer, war im Pflegeheim und ist schon seit 10 Jahren tot.

Die Gäste haben an den klobigen Tischen entlang den Fenstern und Wänden Platz genommen. Die Musikmamsell verteilt Leckereien zum Naschen. Ein nostalgischer Gassenhauer folgt auf den nächsten, der DJ kriegt das Lachen nicht mehr aus seinem Gesicht.

Nostalgie-DJ Alexander strahlt eine Freude aus, die zum Mitmachen animiert.Bild Marcus May

Singles sitzen alleine und hoffen auf ein Aufgebot – vor 50 Jahren muss es ähnlich gewesen sein. Ehepaare halten Händchen, trinken Cola oder Bier und warten auf den einen Song, der ihnen besser als alle anderen gefällt.

Anders als früher tanzen auch mal zwei Frauen zusammen oder machen es wie die 70-jährige T., die ganz für sich alleine tanzt. Langsam füllt sich das Parkett.

Derweil sitzen Hanna und Remo G., beide etwa 80, am Fenster. Sie strahlt übers ganze Gesicht. Seit drei Jahren hat sie die Diagnose. Tanzen ist nichts für die beiden, sie sind wegen der Musik hier. «Und ich liebe es, den Menschen beim Tanzen zuzusehen», sagt Remo. Selbst aufstehen aber, und das Tanzbein schwingen, das sei für ihn eine Qual. «Das sollen die machen, die es können.» Und einige können es.

Ein Ergrauter in Cordhosen beherrscht mit eleganter Hartnäckigkeit das Parkett, die Frau in seinen Armen lächelt verzückt, greift sich immer wieder ins Haar, die Frisur muss schliesslich sitzen.

Ein distinguierter Herr mit Anzug und Brille steht stocksteif am Rand der Tanzfläche. Um ihn herum dreht sich eine jugendliche Erscheinung. Es ist seine Frau Christine. Sie kümmert sich rührend um Thomas, der sich kaum bewegt. Er starrt ins Leere. Beide gehören einer jüngeren Generation an, er ist 67, sie 59.

«Dadurch geht alles noch etwas einfacher», sagt Christine. Thomas leide an einer fronto-temporalen Demenz, sein geistiger Abbau gehe ungewöhnlich schnell vonstatten.

Dann wechselt sie das Thema: Die Musik sei für ihren Geschmack etwas gar nostalgisch hier. Sie liebe Country-Music und Line-Dancing, er dagegen sei ein grosser Rolling Stones-Fan – sein Pferdeschwanz verrät ihn.

Dennoch gehen die beiden regelmässig ins Tanzcafé. «Es ist diese ungeheure Lebendigkeit, die hier herrscht. Thomas liebt das, er braucht das.» Ungerührt tanzt Christine weiter, plötzlich erscheint ein Lächeln auf Thomas’ erstarrten Zügen.