Welche Vergangenheit soll es denn sein? - demenzjournal.com

Biografiearbeit

Welche Vergangenheit soll es denn sein?

Erinnerungszimmer für Menschen mit Demenz im Osnabrücker Ameos-Klinikum. Bild PD

Dörfer im Stil der 50er-Jahre, Möbel aus den 60er-Jahren und Nippes aus längst vergangenen Zeiten: Viele Altersheime zelebrieren derzeit Nostalgie. Wahrscheinlich hilft dies den Angehörigen und Betreuenden mehr als den Betroffenen.

In der Sonnweid diskutieren wir das Thema Biografie und entwickeln es weiter. Unsere Haltung ist zwar differenziert, doch gilt immer der pragmatische Grundgedanke, dass Menschen uns zeigen, was wichtig ist. Dies interpretieren wir nicht. Wir setzen es auch nicht direkt in Bezug zu eventuellen biografischen Ereignissen.

Die Interpretation von Verhaltensweisen scheint eines der gefährlichsten Instrumente in einer Arbeit zu sein, die uns oft suchend zurücklässt. In einer Aufgabe, in der wir gerne Antworten hätten, damit Dinge verständlicher und erklärbar werden. 

Menschen anzunehmen, ihr Partner zu sein, mit ihnen ein Stück des Weges zu gehen: Dies ist die herausforderndste Aufgabe in der Betreuung von Menschen mit Demenz. Das Gefühl, angenommen zu sein, das Erleben eines bedingungslosen «Ja» geben Sicherheit, emotionale vor allem.

Dieses Gefühl ist Grundlage für jede Beziehung, beruflich wie privat. In einer solchen Gefühlsatmosphäre können Trost und Mitgehen, kann Partnerschaft entstehen zwischen zwei Menschen, seien sie gesund oder erkrankt.

Die Geschichte der anderen

Menschen mit Demenz bringen ihre Geschichte in die Institution mit. Daher kann es durchaus Sinn machen, im privaten Umfeld nachzufragen. Zu erfahren, wie dieser Mensch sein Leben gestaltet hat, in welcher Zeit er aufgewachsen ist, was ihm wichtig gewesen ist, was er gerne gegessen hat und vieles mehr. Wir schreiben diese durch den Filter der Angehörigen gesehenen Geschichten auf. Sie geben aber nur begrenzt darüber Auskunft, was der Erkrankte selbst erlebt hat.

Es besteht die grosse Gefahr, dass wir versuchen, sein Verhalten nur durch die erzählten Geschichten zu erklären und zu verstehen.

  Kinder können etwas über ihren Vater erzählen. Doch wer soll schon wissen, was im Leben für diesen wirklich prägend war? Er weiss es vielleicht selbst nicht mehr.

Wie sollen Kinder richtig von einem Früher berichten, das sie gar nie erfasst haben? Wie sollen Kinder Hunger beschreiben können, wenn sie nie unter solchem gelitten haben – und Hunger wonach ist überhaupt gemeint?

Wo ist alles aufgeschrieben? Zum Beispiel, dass Herr T. pädophil war? Ist es in der Pflegedokumentation für immer festgehalten? Ist das die relevante Biografie? Was machen wir damit? Was denkt die 16-jährige Pflegehilfe, wenn sie es im Kardex liest?

Es stellt sich die Frage, ob die Information wirklich noch so relevant ist, dass alle sie kennen müssen. Die alte Geschichte des Betreuten trifft auf die neue Geschichte des Pflegenden. Biografien werden eng verknüpft. Wie viel professionelle Distanz kann erwartet werden?

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Zu Hause und doch nicht zu Hause

Warum ist es so wichtig, etwas erklären zu können? Was hindert uns daran, einfach nur ja zu sagen zum Hier und Jetzt? Es darf nicht von Erzählungen abhängig sein, ob man einem Menschen sorgsam begegnet. Die Suche nach Erklärungen bringt keine Erleichterung.

Der Schriftsteller Arno Geiger schreibt im Buch «Der alte König in seinem Exil» vom Vater, der in seinem Wohnzimmer sitzt:

«Wenn er sagte, dass er nach Hause gehe, richtete sich diese Absicht in Wahrheit nicht gegen den Ort, von dem er weg wollte, sondern gegen die Situation, in der er sich fremd und unglücklich fühlte.»

Gemeint war also nicht der Ort, sondern die Krankheit. Zur Thematik des Nach-Hause-gehen-Wollens schreibt er etwas später:

«Als Heilmittel gegen ein erschreckendes, nicht zu enträtselndes Leben hatte er einen Ort bezeichnet, an dem Geborgenheit möglich sein würde, wenn er ihn erreichte. Diesen Ort nannte der Vater Zuhause, der Gläubige nennt ihn Himmelreich.»

Geiger zeigt uns, wie sehr wir Gefahr laufen, zu interpretieren. Der Wunsch, nach Hause zu gehen, hat oft nichts mit dem Zuhause von früher zu tun. Er kann auch etwas anderes bedeuten. Möchte der Betreuende etwas zu stark aus der Vergangenheit heraus verstehen, führt dies zwangsläufig zu Frustration. So werden wir dem Erkrankten nicht gerecht. Weder ihm noch seinen Wünschen und auch seiner Seele nicht.

Das Jetzt zählt

Erst ein präzises Hinschauen auf das Jetzt öffnet uns den Weg. Die demenzielle Erkrankung ermöglicht uns eine Sichtweise auf den Erkrankten, die uns sonst verborgen bliebe. Nehmen wir ihn innerlich an die Hand, und begleiten wir ihn auf seinem Weg vorwärts. Wir dürfen nicht immer das Gefühl haben, der Blick zurück eröffne Neues.

Der Weg und der Blick gehen vorwärts. Das ist in allen Beziehungen so. Ich spreche in diesem Zusammenhang auch von der demenziellen Biografie, der Biografie der letzten Jahre. Hier könnte ein Schlüssel zu mehr Verständnis liegen.

Es gilt zu erkennen, was sich zeigt, seit die Erkrankung ausgebrochen ist. Wahrzunehmen, wie verschieden die Stimmungslagen sind und wie der eigene Umgang mit der Erkrankung ist beziehungsweise war.

Fühlt sich ein Mensch mit Demenz auf diesem Sofa wirklich wohler als auf einem neuen?Bild PD

Menschen mit Demenz zeigen uns meist sehr direkt den Weg zu und mit ihnen. Der Zugang wird durch das innere Ja sicherer als durch eine Biografie, die von anderen erstellt worden ist. So gesehen verhindert die allzu intensive Auseinandersetzung mit der Biografie geradezu den Zugang zu dem Menschen, den wir betreuen und begleiten wollen.

Oft fragen sich Pflegende, was noch alles zu tun wäre. Dies erzeugt ein Ohnmachtsgefühl. Das innere Ja vermindert dieses, denn das Wichtigste ist das innere Dasein. Pflegende sollen jedoch durchaus Kenntnis davon haben, wie es früher gewesen ist. Ihr beruflicher Rucksack soll mit dem Wissen gefüllt sein, dass es einen Ersten und einen Zweiten Weltkrieg gegeben hat oder die 68er-Bewegung, welche Entwicklungen dort ihren Anfang genommen haben. Dann gelingt es vielleicht, auch die eigene Geschichte besser zu verstehen und dadurch dem Anderen mit noch mehr Respekt zu begegnen.

Biografisch orientierte Räume

Die Tendenz, Räume in Institutionen biografisch orientiert zu gestalten, ist nicht neu. Sie hat sich aber nicht flächendeckend durchgesetzt. Derzeit macht vor allem das holländische Projekt «Hogewey» von sich reden. Es gestaltet die Aufenthaltsbereiche nach früheren Lebensstilen.

Einige Gedanken dazu: Während einer demenziellen Erkrankung nimmt der Mensch zunehmend Abschied von der erlebten Welt der früheren Jahre. Die Wertvorstellungen ändern sich. Was früher gegolten hat, gilt nicht mehr.

Der Abschied von Überflüssigem ist konsequent und radikal. Der Kern des Menschseins wird zum tragenden Bestandteil einer Beziehung. Der Mensch zeigt sich unverfälscht, ehrlich. Er kann nicht anders, als ehrlich zu sein.

Eine Betreuung, die in biografisch orientierten Räumen stattfindet, erscheint unter diesen Gesichtspunkten geradezu grotesk. In welcher Zeit betreuen wir, in den 70er Jahren oder in den 50ern? Nach welchem Erkrankten richten wir uns, nach dem lauten oder dem leisen, dem jungen oder dem alten? Welche Regeln sollen gelten? Diejenigen der 50er Jahre? Kochen wir wieder am Holzherd, feuern wir den Badeofen wieder an oder geniessen wir die technischen Errungenschaften des 21. Jahrhunderts?

Die Wirklichkeit ist jetzt. Ob jemand sie als solche erkennt oder nicht, besitzt keine Relevanz. Entscheidend ist, eine gemeinsame Ausgangsbasis zu haben.

Diese besteht darin, Räume zu gestalten, die individuelle Wege ermöglichen. Da kann es auch dienlich sein, Räume neutral zu halten. Damit hat es Platz für eine eigene innere Raumdefinition, die sich durchaus an erlebten biografischen Schwerpunkten orientieren kann. Ob wir dann das, was wir dadurch sehen, deuten müssen, sei an dieser Stelle sehr bezweifelt.

Die Akzeptanz ist der Schlüssel für die wertfreie Begegnung mit einem Menschen, ob mit oder ohne demenzieller Erkrankung. Die Fragen nach dem Früher sind nur im Kontext des Jetzt und des Morgen zu stellen. Die Gegenwart ist zwar Ergebnis der Vergangenheit. Diese Erkenntnis hilft aber nur sehr beschränkt weiter, wenn es darum geht, das Jetzt und die Zukunft zu verstehen. 

Angehörige wie Betreuende sind deutlich darauf hinzuweisen, dass das empathische Mitgehen, das Dasein weit mehr bewirken kann als ein Halb- und Viertelwissen zu den Fragen der Vergangenheit.

Wenn Menschen Vertrauen in uns haben, dann lassen sie uns auf ihre Weise auch am Gestern teilhaben. Ob wir dieses verstehen oder nicht, spielt keine Rolle. Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das ist die grosse Chance für den Erkrankten und für den Gesunden.