«Ich bemerkte die Erschöpfung nicht» - demenzjournal.com

Pflege und Beruf

«Ich bemerkte die Erschöpfung nicht»

Heike kümmerte sich nicht nur um den kranken Sergio, sondern auch um seine jugendlichen Kinder und Rechtsfragen. Bild Privat

Sich um kranke Angehörige zu kümmern und gleichzeitig zu arbeiten ist oft purer Stress. Fünf Protokolle von Frauen, die es versucht haben – oder noch versuchen.

Es kommt schneller als man denkt: Vater oder Mutter brauchen Hilfe. Erst erledigt man nur Einkäufe, kocht ab und zu, schmeisst eine Trommel Wäsche hinein. Doch ohne es zu merken, übernehmen Kinder oder Ehepartner immer mehr Pflegeaufgaben. Man fühlt sich verpflichtet. Nicht nur der Familie gegenüber, auch der Gesellschaft.

Man kann doch den Betroffenen nicht in ein Heim abschieben! Gemäss statistischem Bundesamt wurden in Deutschland Ende 2019 2,1 Millionen Menschen mit Pflegegrad 2 bis 5 und damit mehr als jeder zweite aller 4,1 Millionen Pflegebedürfti​gen allein durch Angehörige zu Hause versorgt.

Es sind vor allem die Frauen, die pflegen. 

Laut Pflegereport der Barmer Ersatzkasse von 2018 gibt es in Deutschland rund 2,5 Millionen pflegende Angehörige, darunter rund 1,65 Millionen Frauen. Nur jeder dritte pflegende Angehörige geht arbeiten, jeder vierte hat seine Arbeit aufgrund der Pflege reduziert oder ganz aufgeben müssen. Im diesem zweiten von zwei Artikeln erzählen zwei Frauen, wie die Pflege ihre berufliche Karriere beeinflusst und geben Tipps.

Heike (59): «Eine Pflegerin wäre nie in Frage gekommen»

Als ich 2014 mit meinem Lebenspartner nach Italien zog, hätte ich nie gedacht, dass ich mal Vollzeit-Pflegerin werde und ein schweres Burnout bekomme. Sergio ist die grosse Liebe meines Lebens. Es war für mich keine Frage, ihm nach Italien zu folgen.

Ich kündigte meinen Job als Managerin einer Psychotherapie-Praxis. Sergio zahlte mir das gleiche Gehalt, ich sollte für ihn eine Art «Privatmanagerin» sein. Er war Beamter bei der Europäischen Kommission in Florenz, aber frühpensioniert, weil er einige Jahre zuvor die Diagnose «unheilbarer Knochenmarkkrebs» bekommen hatte. Alle drei bis vier Wochen musste er eine Woche nach Würzburg zur Chemotherapie.

Zuerst war ich primär seine Fahrerin und Sekretärin. Ich begleitete ihn nach Deutschland, kümmerte mich um Post und Haushalt. 2015 gaben ihm die Würzburger Ärzte jeden Monat ein Medikament, das ziemliche Nebenwirkungen verursacht. Ich musste ihn rund um die Uhr versorgen – so wie ein Kind, das Grippe hat.

Oft betreute ich dann auch seine zwei pubertierenden Söhne von seiner Ex-Frau, weil er viel zu schlapp war. Bekannte rieten mir, mich weiterzubilden, einen Sprachkurs zu belegen oder einen Computerkurs. Das war aber unmöglich, ich konnte ja nichts kontinuierlich machen.

Die Pflege strengt so unendlich an, ich kam gar nicht auf die Idee, mich weiterzubilden.

Eine Freundin fragte mich dann, ob ich für sie die Buchführung machen könne, sie zahlte mich stundenweise. Da ich gelernte Hotelfachfrau bin und ein Vier-Sterne-Hotel geleitet habe, kenne ich damit aus. Mir machte das Spass. Doch dann verschlechterte sich Sergios Zustand. Ich musste meine Arbeit ständig unterbrechen und war frustriert, weil ich Fehler machte. So sagte ich der Freundin ab.

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Pflege und Beruf

«Meine Karriere ist im Eimer»

Sich um kranke Angehörige zu kümmern und gleichzeitig zu arbeiten ist oft purer Stress. Fünf Protokolle von Frauen, die es versucht haben – … weiterlesen

Eine Pflegerin wäre nie in Frage gekommen. Sergio und ich hatten eine Vereinbarung: Nur wenn ich ihn vollumfänglich bis zu seinem Tod pflege, bekomme ich regelmässig das Monatsgeld und lebenslanges Wohnrecht für seine Wohnung in Karlsruhe.

Die nächsten zwei Jahre waren furchtbar. Ich war mit Sergio fast ständig in der Klinik. Ich schlief schlecht, Zeit für mich hatte ich nie. Ich musste mich auch noch mit Anwälten und Kinder-Psychologen herumschlagen, weil Sergios Ex-Frau auf sein Geld aus war und die Kinder durch die Krankheit ihres Vaters völlig verstört waren.

Nach Sergios Tod 2019 zog ich in die Karlsruher Wohnung. Ich fiel in mich zusammen und eine lähmende Erschöpfung trat ein. Meine Ärztin diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung. Ich habe wochenlang geschlafen.

Nur langsam lernte ich, wieder «ich selbst» zu sein.

Ich melde mich arbeitslos und bekam die Grundsicherung von 760 Euro. Die Beraterin im Jobcenter war sehr engagiert und die Gespräche haben mich moralisch aufgebaut, einen Job konnte sie mir aber nicht vermitteln. Den fand ich mit Hilfe eines Bekannten.

Zwei Jahre lang war Heike fast ständig mit Sergio in der Klinik.privat

Ich sagte allen Freunden und Bekannten, dass ich suche – das würde ich jedem anderen in einer ähnlichen Situation raten. Ich arbeite jetzt 35 Stunden die Woche als Verwaltungsangestellte in einer Physiotherapie-Praxis. Davon kann ich einigermassen leben.

Trotz allem würde ich Sergio immer wieder genauso pflegen. Die Liebe hat mir immer Kraft gegeben. Jetzt habe ich zwar kaum Geld und meine Rente wird sehr gering sein. Aber vielleicht ist man selbst einmal in einer ähnlichen Situation? Dann wünsche ich mir auch einen Menschen, der vorbehaltlos zu mir steht und mich begleitet.

Brigitte (55): «Irgendwas war immer»

Ich arbeite Vollzeit als Erzieherin entwicklungsgestörter Kinder. In die Pflege meiner Mutter bin ich reingerutscht. Ich habe nicht gemerkt, wie das immer mehr mein Leben einnimmt und ich meine Arbeit nicht mehr gut mache.

Meine Eltern und ich leben in derselben Stadt, und ich besuchte sie einmal pro Woche. Als mein Vater vor einigen Jahren an Krebs erkrankte und meine Mutter schwer stürzte, fuhr ich immer öfter zu ihnen. Ich kochte, half im Haushalt, baute meine Mutter psychologisch auf.

Ich merkte überhaupt nicht, dass ich immer mehr Zeit investierte.

Ich hetzte akut von der Arbeit weg oder unterbrach ein Essen mit Freunden. «Kannst Du kommen?» fragte meine Mutter ständig. Sie suchte etwas, bekam ihre Kompressionsstrümpfe nicht angezogen oder die Mikrowelle funktionierte nicht – irgendwas war immer. Allmählich fiel auf, dass ihr Gehirn nicht mehr so funktionierte wie früher. Die Diagnose: Parkinson. Als mein Vater starb, brauchte sie mich noch mehr. 

Mein Beruf gibt mir Kraft, und ich hätte mir nie vorstellen können, den wegen meiner Eltern aufzugeben. Abgesehen davon brauche ich als Alleinstehende dringend das Geld – die Grossstadt ist ein teures Pflaster.

Ich erzählte meinem Chef und den Kollegen von meiner Situation, die hatten Verständnis. Aber sie fragten immer öfter: «Schaffst Du Deine Arbeit?» Ich merkte, dass ich unkonzentriert arbeite. So gab ich ein Forschungs-Projekt auf und meine Arbeit im Betriebsrat und fokussierte mich auf meine Patienten. Dass ich immer erschöpfter war, merkte ich nicht.

Ich konnte schlecht schlafen, hörte immer das Telefon klingeln, weil meine Mutter wieder irgendetwas wollte. Ich machte nur noch meine sechs Termine pro Tag mit den Kindern und ihren Eltern, zwischendurch und danach fuhr ich zu meiner Mutter.

Meine Schwester und ich wollten eine 24-Stunden-Pflege organisieren, aber die wollte meine Mutter nicht.

Für Freunde hatte ich immer weniger Zeit. Kaum jemand hat Verständnis, dass ich ständig akut von Treffen weg eile. Informationen zu Unterstützungsmöglichkeiten bekam ich von meiner Krankenkasse, aber letztendlich muss man sich vieles selbst anlesen. Zum Beispiel dass man sich bis zu sechs Monate von der Arbeit freistellen lassen kann.

Man ist in der Zeit sozialversichert und bekommt vom Staat ein zinsloses Darlehen für den Arbeitsausfall. Und man darf wie Eltern zehn Tage pro Jahr freinehmen, wenn der Betroffene akut krank wird und man die Pflege in dieser Zeit organisieren muss.

Die Personalabteilung wusste von solchen Regeln nichts.

Dabei wirbt mein Arbeitgeber damit, dass Angestellte Beruf und Familie gut vereinbaren könnten. Ich machte mir dann selbst klar: Kann jemand, der psychisch so belastet ist, Kinder und Eltern psychologisch beraten? Schweren Herzens reduzierte ich meine Arbeitszeit. Neulich war ich im Park spazieren – es war das erste Mal seit Monaten.