Die Komplexität des Banalen - demenzjournal.com

Betreuende sind gefordert

Die Komplexität des Banalen

Unterstützung beim Essen – das kann ja jeder. Ja, aber kann es auch jeder so, wie es die unterstützungsbedürftige Person verdient? Bild Dominique Meienberg

Die hohen Anforderungen an eine nur scheinbar einfache Handlung, oder anders gesagt: Einfache Aufgaben im Betreuungsalltag gibt es nicht, wenn man achtsam ist.

Die Betreuung von Menschen mit Demenz stellt hohe Anforderungen an die Mitarbeitenden. Diese Aussage findet wahrscheinlich grosse Zustimmung bei all jenen, welche die Vielfältigkeit der Äusserungsformen demenzieller Erkrankungen schon persönlich erlebt haben.

Schnell denkt man an nicht nachvollziehbare Verhaltensveränderungen, hochgradige kognitive Funktionseinschränkungen und den deutlichen Verlust körperlicher Fähigkeiten – und gesteht den Betreuenden zu, vor jeweils komplexen Aufgaben zu stehen.

Aber denken wir bei dieser Aussage auch an die stillen, alltäglichen Aufgaben der Betreuenden? Gibt es da nicht auch Tätigkeiten, welche man sehr entspannt auf einem eher geringen Komplexitätsniveau angehen kann? 

Mit den folgenden Überlegungen versuche ich am Beispiel der Unterstützung beim Essen – einer Aufgabe, die häufig delegiert wird und die auch die junge Praktikantin am zweiten Tag schon übernehmen kann –  aufzuzeigen, dass es die scheinbar einfachen Aufgaben nicht gibt, zumindest nicht, wenn man genau hinschaut und auch sie ernst nimmt.

Unterstützung beim Essen – das kann ja jeder. Ja, aber kann es auch jeder so, wie es die unterstützungsbedürftige Person verdient? Was ist alles zu berücksichtigen, welche Überlegungen sollte sich die unterstützende Person machen, was sollte sie alles bedenken? Auf jeden Fall mehr, als nur die Frage, wie das Essen vom Teller zum Mund kommt. Ein differenziertes Betrachten der Aufgabe bzw. Tätigkeit kann dies verdeutlichen.  

Eine kleine Auswahl unterschiedlicher Betrachtungsrichtungen mit jeweils möglichen «Fragezeichen»:

Kinästhetik

Unterstützt die Sitzposition das Schlucken oder Verschlucken? Fühlen sich beide beteiligten Wohl in ihrer Position? Fördert die Sitzposition der Pflegenden langfristig deren Gesundheit oder kann sie zu Haltungsschäden führen?

Kinästhetik bei Menschen mit Demenz

Die Methoden der Kinästhetik sind im Betreuungsalltag sehr hilfreich alzheimer.ch/Marcus May

Aktivierung

Welche Gewohnheiten sind für die unterstützte Person wichtig? Welche Bedeutung hat Essen als Aktivität im Tagesverlauf? Ist Essen nur Nahrungsaufnahme? Bedeutet Essen auch Genuss und Gemeinschaft?

Validation

Wie verhalte ich mich, wenn die unterstützte Person immer wieder das gleiche fragt? Wie kann ich dazu beitragen, dass die unterstützte Person sich respektiert und ernstgenommen fühlt – auch in einer Abhängigkeitssituation? Wie gehe ich mit unerfüllbaren Wünschen um?

Ethik

Ist es gerechtfertigt, allen Bewohnenden zur gleichen Zeit das Essen zu servieren? Welche Entscheidungskompetenz messe ich der unterstützten Person zu? Wie verhalte ich mich, wenn die unterstützte Person das Essen ablehnt? Was bedeutet es für die unterstützte Person, wenn ich mich während der Mahlzeit mit meiner Kollegin unterhalte? Kann ich Selbständigkeit zulassen, wenn sie im Widerspruch zu üblichen “Tischregeln” steht?

Basale Stimulation

Wie werden Aussehen, Geruch, Geschmack, Temperatur und Konsistenz des Essens von der unterstützten Person wahrgenommen? Wie kann ich das Öffnen des Mundes initiieren, wie kann ich das Schlucken unterstützen?

Palliative Care

Ist die gegebene Esssituation mit all ihren Einzelaspekten dazu geeignet, das momentane Wohlbefinden zu fördern oder gibt es aufgrund therapeutischer Überlegungen störende Elemente?

Ernährungslehre

Entspricht das gegebene Menü ernährungsphysiologischen Grundsätzen? Wenn nicht, können wir Abweichungen verantworten?

Institution

Kann die Unterstützung beim Essen mit der nötigen Geduld erbracht werden oder führt Zeit- und Termindruck zu nicht angemessener Ungeduld? Stehen benötigte Hilfsmittel zur Verfügung?

Weitere Betrachtungsrichtungen könnten auch noch die Biografiearbeit, die  Angehörigenmeinung, die Hygiene oder Fragen des Umgangs mit herausfordernden Situationen sein. Auch hier liessen sich noch eine ganze Reihe von Fragen formulieren. 

Unterstützung beim Essen – plötzlich wird eine scheinbar so einfache, alltägliche Aufgabe zu einer hochkomplexen Tätigkeit, die – «zu allem Übel» auch noch nach Vernetzung der unterschiedlichen Betrachtungsrichtungen ruft und abschliessend eine Priorisierung verlangt. Vieles steht miteinander in Beziehung, z.B. Zeitdruck und respektvoller Umgang, Sitzposition und momentanes Wohlbefinden, Gewohnheit und Respektiertfühlen, und gleichzeitig ist nicht alles in jeder Situation gleich wichtig. 

Die unterstützende Person muss aufgrund der gemachten Überlegungen also in der Lage sein, eine Situation aus verschiedenen Blickrichtungen zu erfassen, die erkannten Aspekte miteinander in Beziehung zu setzen und abschliessend aufgrund einer priorisierenden Bewertung unter Einbezug ihrer Erfahrung ihr Handeln und Verhalten bestimmen. 

Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist – wenn man sie ernst nimmt – niemals einfach, egal wie alltäglich eine Situation vordergründig erscheint. Daran sollten wir immer denken.