Männer sind anders (Frauen auch) - demenzjournal.com

Mann im Heim

Männer sind anders (Frauen auch)

Die Bewältigung des Alt-Seins als Mann ist eine Aufgabe, die sich auch dem Nicht-Verwirrten stellt. Nur ist der demenziell erkrankte Mann immer wieder von neuem damit konfrontiert. Mara Truog

Den Typus «Mann mit demenzieller Erkrankung» gibt es nicht. Zwar sind die Grundbedürfnisse der Menschen alle gleich, doch eine erfolgreiche Aktivierung muss den individuellen Bedürfnissen Rechnung tragen und sollte keinesfalls zu einer Überforderung führen.

Männer sind in den Heimen in der Regel in der Minderheit. Sie sind meistens älter als ihre Ehefrauen und falls sie erkranken, werden sie zuhause von ihren Frauen betreut. Ihre durchschnittliche Lebenserwartung ist tiefer als die der Frauen, die in vielen Fällen erst erkranken, wenn sie schon Witwen sind.

Heute sind etwa ein Drittel der Heimbewohner Männer. Auch auf Seiten der Betreuenden gibt es mehr Frauen als Männer.

Meine Erfahrung hat gezeigt, dass Männer meistens mehr Mühe damit haben, sich in den Heimalltag einzugliedern. Sie sind weniger bereit als die Frauen, ihre Selbständigkeit einschränken zu lassen.

Die Generation von Männern, die heute ins Heim eintritt, ist patriarchal geprägt. Diese Männer sind es gewohnt, privat das Sagen zu haben.

Die Bewältigung des Alt-Seins als Mann ist eine Aufgabe, die sich auch dem Nicht-verwirrten stellt. Nur stellt sie sich dem demenziell erkrankten Mann immer wieder von neuem.

Diese Bewältigung ist für ihn zusätzlich schwierig, weil er häufig zeitlich desorientiert ist und oft im Gefühl lebt, jünger zu sein als er in Wirklichkeit ist. Doch jeder reagiert auf diese Schwierigkeit auf seine Weise. 

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Mit der Vergangenheit leben

Auch Frauen werden oft von ihrer Vergangenheit eingeholt, sie glauben sie müssten nach Hause, um für die Familie zu sorgen. Aber Frauen gehen anders damit um, sie finden sich eher und schneller mit den kognitiven Verlusten ab. Oder aber sie lassen ihr Umfeld weniger an ihrem Problem teilhaben.

In den Wohngruppen, wo ich früher arbeitete, lebten nie mehr als zwei Männer gleichzeitig inmitten mehrerer Frauen. Ihre Rollen innerhalb der Gruppe waren so unterschiedlich wie Menschen eben sind. Einer suchte überhaupt keinen Kontakt zu den Mitbewohnerinnen, der andere war in sich gekehrt, doch zu allen sehr freundlich.

Ein anderer wiederum ignorierte seinen männlichen Mitbewohner. Zwei andere, die sich ein Zimmer teilten, hatten sich zwar nichts zu sagen, lachten aber gemeinsam herzlich, wenn ich ihnen vor dem Schlafengehen den obligaten Männerwitz erzählte.

Peter Dolder.PD

Wieder ein anderer, der stolze Hahn im Korb einer Frauengruppe, sah mich als Konkurrenten, sobald die Frauen anwesend waren. Er verhielt sich mir gegenüber in dieser Situation missmutig und launisch.

In der Wohngruppe, in der ich zurzeit arbeite, sind es fünf Männer und acht Frauen. Zwei oder drei der Männer sitzen manchmal beisammen, zwei weichen den anderen Männern aus, weil sie von ihrer Gesellschaft überfordert sind. Im Kreis von Frauen sind sie entspannter, den anderen Männern gegenüber scheinen sie sich eher beweisen zu müssen.

Männer sprechen mehr als Frauen über ihren früheren Berufsalltag, der sie immer wieder einholt. Zum Beispiel der ehemalige Schulleiter, der oft die Leute in seinem Umfeld für Schüler hält, und sie auch so anspricht.

Oder der Kadermann, der unruhig ist, weil er meint, er werde zu einer Sitzung erwartet. Oder der Arzt, der meint er müsse seinem Mitbewohner, einem Professor, eine Arbeit abgeben.

Es gibt auch Männer, die verhalten sich, als stünden sie über allem, die der Meinung sind, sie befänden sich in einem Hotel auf Geschäftsreise. Dabei beklagen sie sich ständig über das Verhalten des Personals. Klar sollen sie sich so wohl fühlen wie in einem guten Hotel – das Problem liegt in der fehlenden Einordnung der Realität.

Das Wohlbefinden der Betreuten muss erste Priorität haben, bei Männern und Frauen.

Das Wohlbefinden von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, die alle zum Gesamtbild beitragen. Für jeden Menschen ergibt sich ein anderes Bild. Individuelle Faktoren wie Krankheit, biografische Gegebenheiten oder persönliche Eigenschaften können nicht verändert werden.

Andere Faktoren hingegen sind fremdbestimmt und können zur Verbesserung des Wohlbefindens beitragen. Dazu gehören beispielsweise das ökologische Umfeld, das Menschenbild, an dem sich die Betreuenden orientieren oder die Professionalität und Methoden der Betreuung. 

Die Grundlagen für das Wohlbefinden können geschaffen werden, müssen aber in der Pflege und Betreuung täglich neu erarbeitet werden. Wohlbefinden bei Menschen mit einer demenziellen Erkrankung bezieht sich immer nur auf die Gegenwart, auf den Moment, und muss stets neu reflektiert werden.

Alltagsgestaltung für Männer

Spezifische Aktivierungs- und Betreuungsangebote für Männer mit einer demenziellen Erkrankung werden seit Jahren durchgeführt und haben sich bewährt. Die Erfahrung zeigt aber, dass weniger mehr ist: 

Es sind die einfachen und wenig ehrgeizigen Unternehmungen, die ein gutes Gemeinschaftsgefühl und Wohlbefinden schaffen.

Andere Aktivitäten wie zum Beispiel solche, die auf das frühere Berufsleben Bezug nehmen, führen schnell zu einer Überforderung.

Bereits vor mehr als zwanzig Jahren begann das Demenzzentrum Sonnweid spezielle Aktivierungen für Männer anzubieten. Damals waren in der Sonnweid, wie in anderen Institutionen auch, die Männer mit einem Anteil von etwa 15 Prozent in der Minderheit. Das Betreuungspersonal war fast ausschliesslich weiblich.

Viele Beschäftigungs- und Aktivierungsprogramme waren eher auf die Bedürfnisse von Frauen ausgerichtet. Um das Wohlbefinden der Männer zu fördern, begannen wir mit einem eigenen Aktivierungsprogramm in Männergruppen. Diese Form der Aktivierung hat sich bewährt und besteht bis heute.

Die Inhalte der Aktivierungsprogramme wurden und werden genau reflektiert. Was gerne als typisches «Männerprogramm» angesehen wird, ist für Männer mit einer demenziellen Erkrankung nicht unbedingt geeignet. Bei jedem Schritt besteht die Gefahr, in eine der vielen Fussangeln der Überforderung zu stolpern.

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Eine kleine Gruppe von Männern, betreut von Männern, unternimmt gemeinsam etwas: Einen Ausflug, sie gehen etwas besichtigen, eine Sammlung, eine Ausstellung, ein Museum. Sie besuchen ein Wirtshaus, eine sportliche Veranstaltung, den Zoo usw.

Die Erfahrungen aus diesen Aktivitäten sind übers Ganze gesehen sehr positiv, die Männer erleben zusammen eine gute Zeit und kehren meist entspannt in die Institution zurück. Wenn sie sich später im Haus begegnen, begrüssen sie sich oft freundschaftlich.

Die Tatsache, dass auch die Begleitung durch Männer erfolgt, ist wesentlich für den Charakter der Aktivitäten und das positive Gruppengefühl. Dies ist nicht anders als sonst in einer Männergruppe (Militär, Sport) und hat auch nichts mit der demenziellen Erkrankung zu tun.

Eine reine Männergruppe ist in sich geschlossener und homogener als wenn Frauen anwesend wären. Die Männergruppen werden jeweils unter Berücksichtigung von Mobilität, Biografie und Interessen zusammengestellt.

Überforderung durch Aktivitäten

Trotz aller positiven Erfahrungen gibt es immer wieder Momente, die zeigen, wie schnell aus einer guten Absicht eine Überforderung entstehen kann. So besuchten wir zum Beispiel mit einer Gruppe Männer das Militärmuseum in Dübendorf. Wir wählten dieses Ausflugsziel, weil alle diese Männer früher einmal Militärdienst geleistet hatten.

Einer der Teilnehmer, ein ehemaliger hoher Offizier, geriet während des Besuchs völlig in Stress, weil er sich plötzlich wieder in den subalternen Leutnant zurückversetzt wähnte, der damals unter einem starken Bewährungsdruck gestanden haben muss.

Manchmal spielen sich solche Konfrontationen mit der Vergangenheit aber auch ganz ungezwungen ab. Der gleiche Mann wurde vom Thema Militär durchaus nicht immer und in jeder Situation gestresst. So pflegte ich ihn jeweils am Morgen beim Erwachen zu begrüssen, indem ich neben seinem Bett die Achtungsstellung einnahm, was er wohlgelaunt konterte mit «ruhn».

Am Abend setzte er sich manchmal zu mir an den Küchentisch und trank ein Bier, während ich die Eintragungen in die Bewohnerakten machte. Zwischen uns fiel der Lichtschein der Hängelampe auf den Tisch. Er unterhielt sich mir mir über den militärischen Alltag, als ob wir zusammen in der Offiziersmesse sässen. Eines Abends nahm er verschiedene Akten aus der Hängeregistratur, studierte sie und meinte dazu nur: «Alles Simulanten».

Bei Männern scheint, so die Erfahrung, die Nähe einer Aktivität oder eines Umstands zum früheren Beruf schnell zu einer Überforderung zu führen. So hatte der Mann, der früher als Architekt arbeitete, beim Besuch in einem Architekturbüro plötzlich Schweissausbrüche und zeigte alle Anzeichen von Stress.

Die Überforderung durch eine Aktivität, die in einem Zusammenhang mit dem früheren Berufsleben steht, kann auch dann eintreten, wenn sie sehr sorgfältig geplant und begleitet wird.

Ein anderes Männerprojekt der Sonnweid war die Werkstattwoche. Die Idee war folgende: Vier Männer, betreut vom Hauswart und mir, sollten während einer Woche täglich eine gute Stunde gemeinsam werken.

Wir hatten Kistchen vorbereitet, die sie schleifen, zusammenschrauben und danach lackieren sollten. Auf die Idee kamen wir, weil uns aufgefallen war, dass viele Männer gerne an Schrauben drehen. Auch hatten wir ausgediente Fernseher und Radios vorbereitet zur Demontierung für die Entsorgung.

Wir begleiteten die Männer ganz eng, weil sie in dieser Situation, die sie an eine Erwerbsarbeitssituation erinnerte, einen hohen Anspruch an sich stellten. Trotzdem zeigte sich schnell eine Überforderung – wir mussten zu einer eins-zu-eins Betreuung übergehen.

Bald wollten sie auch wissen, ob diese Arbeit denn bezahlt werde und wie hoch der Lohn sei. Nach der Auswertung dieser Werkstattwoche waren wir uns einig: Diese Art der Aktivierung ist überflüssig und trägt nichts zum Wohlbefinden der Männer bei. 

Sinnvolle Aktivierung

Sinnvolle Aktivierung geht von den Bedürfnissen der betreuten Männer und Frauen aus. Möchte sich jemand an Hausarbeiten beteiligen, so ist dies ebenso eine Form der Aktivität wie ein Spaziergang, Einkaufen gehen oder Federball spielen – mit anderen Worten: Aktivierung umfasst ein sehr breites Spektrum an Tätigkeiten.

All diese Aktivitäten können auf verschiedene Weise umgesetzt werden und müssen je nach Situation unterschiedlich beurteilt werden. So kann es richtig sein, in der eins-zu-eins Betreuung mit jemandem in der Küche zu arbeiten, oder ihm vorzuschlagen, zusammen mit anderen etwas zu rüsten.

Auch TV-Schauen kann aktivierend sein. Wichtig ist die Wahl des Programms und die Einschätzung, ob jemand besser für sich alleine, in der Gruppe oder mit Betreuung fern sieht. Geeignet sind vor allem Sendungen, die das Ende nicht offen lassen: Sport-, Natur- und Musiksendungen, Reiseberichte und Stummfilme mit Untertiteln.

Männer sprechen häufig gut auf Sportsendungen an. Eine Art der Aktivierung mit «Männergroove» kann auch sein, gemeinsam ein Autorennen oder einen Fussballmatch anzuschauen und dazu ein Bier zu trinken.

Falls es die Umstände zulassen, ist es auch gut, mit jemandem etwas allein zu unternehmen, einen Spaziergang zu machen oder eine Unterhaltung unter Männern zu führen.

Weniger ist mehr

Überforderung durch Aktivierung entsteht häufig dann, wenn sie an eine frühere Überforderungssituation erinnert. Überforderungssituationen gehören zum «normalen» Erfahrungshintergrund aller Menschen, sei es in der Familie, als Eltern, im Berufsleben, durch soziale Kontakte, usw..

Wir lernen damit umzugehen, sie zu erkennen, zu formulieren und uns dagegen zu schützen.

Menschen mit Demenz sind der Überforderung oder der Erinnerung an eine Überforderung viel stärker ausgeliefert, weil sie dieses Gefühl nicht filtern können.

Die Geschlechtszugehörigkeit spielt hier insofern eine Rolle, als dass es durch die Sozialisierung die «typisch« männlichen und weiblichen Erfahrungen gibt. Diese gilt es zu reflektieren, wenn durch Aktivierung eine Überforderung vermieden werden soll.

Ein eigentlicher Leitfaden für spezifische Betreuungs- oder Aktivierungsangebote für Männer würde von der meines Erachtens irrigen Vorstellung ausgehen, dass es den Typus «Mann mit demenzieller Erkrankung» gibt. Die Grundbedürfnisse der Menschen sind zwar dieselben, die richtige Aktivierung ist aber diejenige, welche den individuellen Bedürfnissen Rechnung trägt. 

Männer sind anders – Frauen auch. Der Erfahrungsschatz ist individuell und prägt das Erleben der Aktivierung. Weniger ist mehr: Eine Aktivierung, die zu Überforderung führt, ist nicht sinnvoll.