«Schnell aufs Klo und dann ab unter die Dusche!» - demenzjournal.com

Pflegealltag

«Schnell aufs Klo und dann ab unter die Dusche!»

«Menschen mit Demenz wurden besonders schlecht behandelt. Viele sassen oder lagen einfach herum, riefen ins Leere, als wären sie gar nicht vorhanden.» Mara Truog

Eine langjährige Pflegerin, die anonym bleiben möchte, berichtet aus ihrem Arbeitsalltag. Sie erzählt von Menschen mit Demenz, für die niemand Zeit hat, die einfach mit Medikamenten ruhig gestellt werden. Aber sie hat auch positive Erfahrungen gemacht.

«Na, das war wohl nichts heute. Wieder nichts geschafft.» Mit solchen Kommentaren gehen viele meiner Kolleginnen abends nach Hause. Sie sind frustriert, weil sie wieder zu wenig Zeit für die einzelnen Patienten hatten, weil sie sich den ganzen Tag getrieben fühlten.

Ich kann sie alle sehr gut verstehen. Ich habe ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht, aber nicht nur. Auch in unserem Beruf hängt viel von der inneren Einstellung ab. Da ich mehrfach den Arbeitgeber gewechselt habe, kenne ich viele verschiedene Einrichtungen.

Es ist erstaunlich, wie gross die Qualitätsunterschiede sind, wie unterschiedlich mit den alten Leuten umgegangen wird.

Empörend

Ich beginne mal mit einem sehr krassen Beispiel. 2009 war ich ein knappes Jahr in einem von der Diakonie betriebenen Pflegeheim. An den Wänden hingen Plakate mit christlich geprägten Leitsätzen: «Der Herr ist mein Hirte.» Oder: «Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt.»

Real war es eher so, dass den Patienten vermittelt wurde: Du steht hier im Weg. Das passierte häufig dann, wenn jemand mit seinem Rollator unterwegs war und sich nicht so schnell bewegen konnte.

Zur Person

Die Pflegerin, die hier erzählt, ist staatlich examinierte Krankenschwester. Seit 25 Jahren ist sie in der Pflege tätig. Sie war zunächst stationär im Krankenhaus beschäftigt, danach hat sie alte Leute in der ambulanten Pflege und in Pflegeheimen betreut. Die 52-Jährige ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt seit mehr als 20 Jahren in Hamburg. Sie arbeitet in Vollzeit und verdient netto 2500 Euro.

Demente Menschen wurden besonders schlecht behandelt. Viele sassen einfach herum, riefen ins Leere, als wären sie gar nicht vorhanden.

Oft haben die Pflegekräfte Medikamente gezielt zu falschen Tageszeiten gegeben, also zu früh am Abend, damit sie die Patienten ins Bett legen konnten und aus dem Weg hatten. Bei Leuten mit Weglauftendenzen haben die Pflegekräfte die Bettgitter hochgemacht, damit die Patienten nicht mehr aus dem Bett kommen.

Ich habe viel Resignation bei den dementen Heimbewohnern gespürt, Ohnmacht, Wut, Angst, Gegenwehr. Man merkt das an ihrer Mimik, ihrer Körpersprache.

Wenn ich mich um einen Patienten etwas länger kümmerte, hiess es ganz schnell von einer Vorgesetzten: «Du bist zum Arbeiten hier, nicht zum Rumpuscheln.» Oder: «Nun kämm’ doch nicht stundenlang an der Frau herum, wir haben auch noch zu tun.»

Als wäre die Zuwendung, die ich gebe, keine Arbeit. Ich habe es trotzdem so gemacht, auch wenn ich damit angeeckt bin und öfter zum Gespräch mit Vorgesetzten zitiert worden bin. Anders hätte ich den Job nicht machen können.

Stutenbissig

Das Klima unter den Kollegen war schrecklich: stutenbissig, verleumderisch. Es gab bei uns eine Art Spitzel-Hierarchie: Wer petzt oder der Bereichsleitung um den Bart geht, gewinnt. Da wurde sich gegenseitig in die Pfanne gehauen, hinterm Rücken getratscht. Tiefer geht es nicht mehr. 

Da hätte wirklich mal jemand wie Günter Wallraff bei uns undercover recherchieren sollen.

Ich war damals mit zwei Kindern alleinerziehend und hatte eine Teilzeitstelle. Oft hiess es, ich solle Überstunden machen, ich hätte ja noch Luft. Meine Vorgesetzten nutzten aus, dass ich alleinerziehend war, sie dachten, ich hätte bestimmt Angst um meinen Arbeitsplatz.

Meine Überstunden wurden nicht automatisch bezahlt, ich musste darum kämpfen. Ausserdem hatte ich dort nur Zeitverträge, das würde ich heute nicht mehr machen. Ich habe immer wieder versucht, etwas zu verändern, mich mit Kolleginnen zusammen zu tun, aber es war nicht möglich, die Hierarchie war sehr starr. Deshalb habe ich nach einem knappen Jahr gekündigt – und es nie bereut.

«demenzjournal.com hilft Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen mit Wissen und Verständnis. Das schafft positive Lebensimpulse.»

Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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Oft habe ich Kollegen erlebt, die ewig in einem Betrieb geblieben sind, obwohl sie dort unglücklich waren, auch in diesem angeblich so christlichen Horrorheim. Das kam mir fast vor wie ein Stockholm-Syndrom: Das Opfer solidarisiert sich mit seinem Geiselnehmer. Mir könnte das nie passieren.

Jeder sollte unbedingt wechseln, wenn es irgendwo gar nicht klappt! Schliesslich werden überall Pflegekräfte gesucht.

Schwierig an unserem Beruf ist, dass es keine Dienstplansicherheit gibt, immer wieder passieren Ausfälle durch Krankheiten. Unser Beruf ist anstrengend, psychisch und auch körperlich, gerade für Pflegerinnen, die älter werden.

Grenzenlos

Wir gehen oft an unser Limit. Es liegt in der Natur der Sache, dass da Menschen häufiger krank werden. Auf Zeitarbeitsfirmen zurückzugreifen kann sich ein kleiner Pflegedienst nicht leisten. Häufig müssen die verbliebenen Kräfte deshalb noch mehr Arbeit stemmen.

Wenn Pflegekräfte ausfallen, wird in der ambulanten Pflege oft aus zwei Touren eine gemacht. Das heisst ich muss in derselben Zeit doppelt so viele Menschen besuchen wie sonst. Mir ist das bei mehreren Pflegediensten so ergangen. Statt 45 Minuten bin ich nur 20 Minuten bei jemandem zu Hause.

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Ich mache nur das Nötigste, eine schnelle Körperpflege. Dabei lasse ich den Menschen nicht die Zeit, die sie vielleicht brauchen, um etwas allein zu schaffen, das sie noch können; wie zum Beispiel das Gesicht waschen.

Dadurch werden sie in ihrer Selbstbestimmung stark eingeschränkt. «Los, jetzt aber schnell aufs Klo und dann unter die Dusche!» Wenn das zu oft passiert, fühlt es sich für mich falsch an.

Menschen mit Demenz haben besonders feine Antennen. Sie spüren, wenn ich unter Strom stehe und wenig Zeit habe.

Oft sind sie wie Kinder, die gerade dann besonders langsam sind, wenn sie sich beeilen sollten.

Manchmal sind die Patientinnen auch ratlos – sie verstehen nicht, warum es so schnell gehen soll. Oder sie gehen in die Offensive, hauen mit der Zahnbürste auf mich ein, treten mich, klammern sich am Klo fest, schmeissen den Yoghurt an die Wand.

Bei solchen Machtspielchen gewinnt natürlich keiner. Je weniger Zeit wir haben, desto häufiger kommt es zu solchen Szenen. Bei einem guten ambulanten Pflegedienst können sich die Mitarbeiter für die Demenzpatienten genug Zeit nehmen.

Validierend

Bei meinem derzeitigen Arbeitgeber ist der Personalschlüssel gut. Eine Seniorenwohnanlage, in der rund 30 Prozent der Bewohnenden von Demenz betroffen sind. Sie wird von einer Wohnungsbaugenossenschaft betrieben.

Hier muss keine grosse Rendite erwirtschaftet werden, es müssen keine Investoren bedient werden. Ich denke, das wirkt sich positiv auf das Klima aus.

Ich bilde Auszubildende aus, die in der Altenpflege arbeiten wollen, von der Pieke auf. Das ist sehr erfüllend, weil ich etwas weitergeben kann von dem, was ich wichtig finde, zum Beispiel die Methode der Validation.

Ich darf das jetzt zeitintensiv machen, ohne dass ein Vorgesetzter reinfunkt. Ich kann den Auszubildenden zeigen, wie man individuell auf Patienten eingeht.

Wenn die an Demenz erkrankte Frau Schmidt schreit und Angst hat, weil sie im Liegen gewaschen wird, dann setzt man sie halt hoch. So kann sie mitbestimmen und muss nicht mehr «Du Arschloch!» rufen.

So geht Validation:

Quelle alzheimer.ch

In der Belegschaft wird auf anständige Weise kommuniziert. Natürlich gibt es auch Konflikte, aber die kommen auf den Tisch. Wenn doch mal jemand hinten rum agiert, wird das thematisiert und ausgehebelt. Hierarchische Konflikte werden angesprochen, und die Büros der Vorgesetzten sind meist offen.

Bei uns im Heim ist alles ein bisschen abgewetzt, ein Sechziger-Jahre-Bau, aber total gemütlich. Die Bewohner haben Einzelzimmer und Doppelzimmer. Wenn Leute nicht zueinander passen, werden sie auch nicht zusammen in ein Doppelzimmer gesperrt.

Es gibt ein Schwimmbad, einen grossen Bewegungsraum, wir haben auch einen eigenen Ergotherapeuten.

Die Bewohner werden mobilisiert, dass die Schwarte kracht, keiner bleibt in seinem Zimmer.

Neulich haben wir alle zusammen Waffeln gebacken und eine gigantische Schweinerei veranstaltet. Auch Bewohner mit Demenz waren dabei, die mit zittrigen Händen Eier aufschlugen und Mehl verstreuten  – manche Eierschale fiel in den Teig.

Bei der Aktion landete mehr auf dem Fussboden als in den Waffeleisen, aber alle waren total beschäftigt und zufrieden. Die alten Leute haben gemerkt, dass sie noch etwas tun dürfen und können, das Ergebnis ist dabei total unwichtig. Ich habe mich über ihren Eifer sehr gefreut.

Empathisch

Mitunter werde ich gefragt, wie viel Empathie ich in meinem Job brauche. Ich würde mich schon als einfühlsam bezeichnen, aber nicht immer. Empathisch bin ich nicht, wenn andere versuchen, mich anzuzapfen, dann mache ich zu.

Häufig sind das die Angehörigen. Die machen mir Vorwürfe, warum dies und jenes mit der alten Mutter nicht passiert ist, oder sie breiten ihre Nöte vor mir aus, wie anstrengend die Mutter ist, wenn sie ständig dasselbe fünf- und zehnmal fragt. Dann mache ich mein Stewardessen-Gesicht und schalte auf Profi um.

Es gibt aber auch Momente, da bin ich zu Tränen gerührt. Wir haben bei uns im Heim eine demente Frau, die ist 103. Oft schreit sie, beschimpft mich, schlägt nach mir.

Quelle alzheimer.ch

An einem anderen Tag sitzt sie mir gegenüber, trinkt ihren Kakao, dann kommt ihre grosse dicke Hand auf mich zu, ich denke, jetzt schlägt sie mich, aber sie sagt einfach nur: «Liebes.» Für einen Moment ist eine Funkverbindung zwischen uns da. Dann kann ich alles andere total vergessen.

Bei meiner Arbeit versuche ich immer, mit den alten Menschen ins Gespräch zu kommen. Ich möchte sie nicht einfach nur waschen, sondern zum Reden bringen. Spannend ist es, wenn sie aus ihrer Biografie erzählen, über geschichtliche Zusammenhänge, an die sie sich erinnern können. Viele entstammen ja noch der Kriegsgeneration.

Wenn sie erzählen, bin ich beeindruckt, was man so alles überstehen kann. Ich versuche, aus meiner Arbeit mit den alten Leuten Quality-Time, also wertvolle Zeit zu machen, so oft es geht. Das rate ich auch allen Kolleginnen und Kollegen, die sich in dem Beruf aufreiben.

Wir haben gar nicht so viel Routine, wie oft gesagt wird – kein Tag ist wie der andere.

Es wäre schön, wenn mehr Pflegekräfte Wertschätzung gegenüber ihrem Beruf hätten. Wenn sie mehr darauf schauten, was sie am Ende eines Arbeitstages erreicht haben.

Man kann sich abends fünf Dinge überlegen, die man geschafft hat und die positiv waren. Ich mache das seit Jahren so. Das hilft mir, auch die nicht so guten Tage zu bewältigen.


Die Pflege in Deutschland


Ende 2017 waren in Deutschland mehr als 3,4 Millionen Menschen pflegebedürftig. Rund 1,1 Millionen Personen sind in der Altenpflege beschäftigt. Damit ist die Zahl der Pflegekräfte in den vergangenen 20 Jahren stark gestiegen.

Etwa 85 Prozent des Personals in der Altenpflege sind Frauen. Die Mehrzahl der Beschäftigten arbeitet in Teilzeit. Mehr als 23 000 Fachkräftestellen in der Altenpflege sind nicht besetzt. Schätzungsweise 150 000 Menschen arbeiten in Schwarzarbeit, vielen von ihnen, zumeist Frauen, kommen aus Osteuropa.

Der Verdienst für Fachkräfte in der Altenpflege beträgt im Mittelwert 2621 Euro brutto (die regionale Spannbreite ist allerdings gross). Zum Vergleich: In der Krankenpflege wird deutlich besser verdient, Fachkräfte bekommen im Durchschnitt 3239 Euro. Nur 20 Prozent der Pflegekräfte in der Altenpflege werden nach Tarif bezahlt.

Laut einer repräsentativen Umfrage des DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) liegt der Anteil der Altenpflegerinnen und –pfleger, die sich bei der Arbeit oft gehetzt fühlen, bei 69 Prozent. 42 Prozent geben an, dass sie «häufig Abstriche bei der Qualität ihrer Arbeit machen, um die Arbeitsmenge bewältigen zu können». Nur ein Fünftel der Beschäftigten kann sich vorstellen, bis zur Rente zu arbeiten.

Ein von der Regierung beschlossenes «Sofortprogramm Pflege» sieht vor, dass ab 2019 in der Altenpflege 13 000 neue Stellen geschaffen werden, die von der gesetzlichen Krankenkasse finanziert werden. Krankenhäusern, die eine bestimmte Mindestpersonalausstattung nicht erfüllen, drohen Sanktionen.

In den letzten Jahren hat sich der Trend verstärkt, dass große Investmentgesellschaften Pflegeeinrichtungen aufkaufen und maximalen Profit erwirtschaften wollen. Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich gegen überzogene Renditen im Pflegebereich ausgesprochen und erwägt sogar, die Renditen zu deckeln.