Menschsein in der Pflege - demenzjournal.com

Sokrates als Vorbild

Menschsein in der Pflege

Pflegen heisst, mit Verantwortung zu handeln und den Alltag der Menschen mit Unterstützungsbedarf zu begleiten. Daniel Kellenberger

In der Pflegearbeit macht sich seit Jahren Unzufriedenheit bemerkbar. Hohe Arbeitsbelastung, Zeitdruck, Bürokratie statt Menschlichkeit – ein Umdenken und neue Konzepte sind dringend notwendig. Die sogenannte Mäeutik oder Hebammenkunst ist ein möglicher Ansatz.

Die Problemfelder in der Pflege kannte die 2018 verstorbene Dr. Cora van der Kooij allzu gut. Die Krankenschwester, Historikerin und Pflegewissenschaftlerin aus den Niederlanden sehnte sich nach einer humanistischen Ausrichtung der Pflege.

Auf der Suche nach einer ganzheitlichen, an Lebensvorstellungen und menschlichen Werten orientierten Pflege und Betreuung stösst van der Kooij auf die Mäeutik von Sokrates, auch bekannt als Hebammenkunst.

Was vorerst verwirrend klingt, hat tiefgründige Ansätze, die vor allem eines sind: person-zentriert. 

Die Grundannahme ist, dass die Wahrheit in unserer angeborenen Vernunft liegt und durch gezielte Fragen lediglich «entbunden» werden muss.

Das setzt Dialog und Begegnung voraus. Diese Kommunikation und Wertschätzung sind wichtige Bestandteile im Pflege- und Betreuungsbereich.

Um an diesen philosophischen Grundsätzen anzuknüpfen, muss dieser Arbeitsbereich neu gedacht werden. Und genau dies schafft van der Kooij mit ihrem mäeutischen Pflege- und Betreuungsmodell (MPBM).

Cora van der Kooij war Krankenschwester, Historikerin und Pflegewissenschaftlerin.PD

Pflegen heisst, mit Verantwortung zu handeln und den Alltag der Menschen mit Unterstützungsbedarf zu begleiten.

Hierzu gehört vor allem das Bewusstsein – also bewusst pflegen und betreuen, kommunizieren, dokumentieren und dies ohne das Erleben und die daraus resultierenden Bedürfnisse des Individuums zu vernachlässigen.

Da der Mensch in der Mäeutik im Mittelpunkt steht, gehört sowohl seine gegenwärtige Situation als auch seine Lebensgeschichte zu ihm. Sie sind somit auch entscheidende Elemente des Modells.

Es muss aber nicht nur die pflegebedürftige Person berücksichtigt werden, denn die Mitarbeiterinnen und Angehörigen begleiten und verarbeiten ihren Lebensabschnitt mit.

Auch sie erleben Werte, Interaktionen und Sicherheit auf ihre individuelle Weise. Somit ist das mäeutisch geprägte Modell erlebensorientiert.

In der kleinen Stadt Riedlingen an der Donau liegt das Seniorenzentrum Konrad-Manopp-Stift, eine Einrichtung der Paul Wilhelm von Keppler-Stiftung, dem grössten katholischen Altenhilfeträger in Baden-Württemberg.

Hier ist man seit Jahren auf der Suche nach einem stimmigen Pflegemodell. Der Einrichtungsleiter Ludwig Geißinger und seine Mkitarbeitenden stossen bei Recherchen auf das MPBM.

Sofort ist er vom Ansatz des Modells überzeugt und nimmt Kontakt mit van der Kooij auf, die zu diesem Zeitpunkt bereits das Institut für mäeutische Entwicklung der Pflegepraxis in Holland gegründet hat und später die Akademie für Mäeutik nach Deutschland bringt.

Es kommt die Frage auf: Wie lassen sich diese theoretischen Leitsätze sinnvoll in die Praxis einbetten?

Van der Kooij ist bereit, zusammen mit dem Konrad-Manopp-Stift dieser Frage nachzugehen und holt die beiden Geschäftsführerinnen der Akademie, Elke Strauß und Jeanette Lösing mit ins Boot.

So kommt das Trio im Jahr 2009 zur Entscheidung, sich gemeinsam auf den Weg zu machen. Genau genommen: Das neue Pflege und Betreuungsmodell soll im Konrad-Manopp-Stift angewandt und gelebt werden.

Eine Steuerungsgruppe aus Wohnbereichsleitern, Pflegedienstleiterinnen und internen Mitarbeitenden sind für die Planung, Umsetzung und Überwachung der Projektziele sowie für die Dokumentation des Ablaufs zuständig. Geplant ist, das Modell in den drei Wohnbereichen des Stifts zeitlich versetzt einzuführen, um später Vergleiche zwischen ihnen ziehen zu können.

2011 finden die ersten Kurse für die Mitarbeitenden des Seniorenzentrums statt. Alle Pflegekräfte lernen in den Einführungs- und Basiskurstagen die Grundlagen der Mäeutik kennen und setzen sich mit den Bausteinen des Modells auseinander.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Der Beobachtungsbogen

Vom Unbewussten ins Bewusste treten: In den Kursen geht es unter anderem darum, das Beobachten zu erlernen. Mitarbeitende beschäftigen sich intensiv mit den Bewohnern und Bewohnerinnen und achten dabei auf Persönlichkeit, Haltung, Tagesablauf, Vorlieben und Gefühle. Wichtig ist, den Mensch ohne Bewertung zu beobachten.

«Der Austausch unserer positiven Kontaktmomente jeden Tag ist ganz toll. Da gehen wir ganz anders miteinander und mit unseren Bewohnern um.» (Emilia, Wohnbereichsleiterin)

Worte, Verhalten und Körperausdruck werden objektiv beschrieben. Die dahinterliegenden Gefühle und Bedürfnisse können dann erfragt beziehungsweise erahnt werden.

Oft interpretieren wir Informationen zu schnell. Beim Versuch, das Beobachtete zu formulieren, sollte man sich nicht nur ausreichend Zeit nehmen, sondern auch so neutral wie möglich sein.

«Seit wir mäeutisch arbeiten, habe ich einen grossen Respekt vor der Lebensgeschichte der alten Menschen entwickelt. Unsere Bewohner sehe und erlebe ich jeden Tag als besondere, einzigartige Menschen.» (Minna, Pflegefachkraft)

Kontaktaufnahme und Beziehungsgestaltung sind wichtige Aufgaben in der Pflege und Betreuung. Mitarbeitende treten täglich mit Bewohnern in Kontakt und lernen, positive Kontaktmomente zu erkennen und darüber zu sprechen. Häufig handeln sie intuitiv und hören auf ihr Bauchgefühl.

«Ich würde nie woanders hinwollen, hier werden meine Bedürfnisse gehört und erfüllt.» (Bewohnerin)

In den Kursen geht es darum, sich stets bewusst zu machen, was warum getan wird. Also, dieses Bauchgefühl in den Kopf zu holen, es zu reflektieren. Diese Vergegenwärtigung des eigenen Handelns erlaubt eine Professionalität, die über die pflegeberufliche Qualifizierung hinausgeht.

Dabei gilt: Nicht die Krankheit bzw. die Probleme stehen im Vordergrund, sondern der Mensch mit seinem Erleben und seinen individuellen Bedürfnissen. Die Mitarbeitenden lernen, ihre übliche funktionale Haltung loszulassen und erlebensorientiert zu arbeiten.

«Es tut so gut, dass ich in alle Prozesse mit einbezogen werde.» (Tochter einer Bewohnerin)

Der ständige Austausch ist essentiell: Im Team über Beobachtungen und Erlebtes mit den Bewohnern zu sprechen und das gewonnene Wissen weiterzugeben, stärkt das Kollektiv und gibt den Mitarbeitenden die Möglichkeit, ihre Erfahrungen zeitnah zu reflektieren.

Deshalb gehören Bewohnerbesprechungen zum Alltag. Etwa: Fünf Mitarbeiter tauschen sich über Bewohnerinnen aus und definieren Umgangsempfehlungen für die Alltagsgestaltung, die in die Tagesstruktur einfliessen.

Während das langjährige Projekt in der Einrichtung stattfindet, werden zusätzlich vier Mitarbeitende des Stifts von der Akademie für Mäeutik zu Prozessbegleitern ausgebildet. Mit umfassendem Wissen und Kompetenzen leiten sie unter anderem die Bewohnerbesprechungen.

Mit dem mäeutischen Ansatz verändern sich die Anforderungen an den Pflege- und Betreuungsberuf.

Vor allem aber: Mitarbeitende erinnern sich an ihre ursprüngliche Motivation – den Mitmenschen in schwierigen Lebenssituationen zur Seite zu stehen.

Professionalität setzt somit neue Massstäbe. «Nur» Kenntnisse der Pflege, Betreuung oder Hauswirtschaft reichen nicht aus, schliesslich will der pflegebedürftige Mensch in seiner Ganzheit erkannt und erfahren werden.

Hierfür sind ein interdisziplinäres, umfassendes Handeln und die Bereitschaft zu positiven Veränderungen im Berufsverständnis wichtig. Der Leitsatz vom intuitiven zum begründeten Handeln erfordert zudem viel Wissen im Umgang mit Methoden, Werkzeugen und Hilfsmitteln.

Dieser Wechsel stellt hohe Anforderungen an die Mitarbeiterqualifizierung. Dazu ist die Haltung zu Themen wie Umgang und Kommunikation massgebend.

Wenn Sokrates Recht hat

Die ersten Beobachtungen und qualitativen Auswertungen zeigen: Das Modell führt zu positiven Auswirkungen im Konrad-Manopp-Stift. Krankenhausaufenthalte nehmen ab und werden kurzer. Insgesamt macht sich mehr Ruhe bei den Bewohnern bemerkbar. Es kann beobachtet werden, dass sie einen besser eingependelten Tages- und Nachtrhythmus haben.

Die Mitarbeitenden wirken zufriedener und gelassener seit der Einführung des Mäeutik-Modells. Das liegt besonders an der Veränderung der Haltung und der intensivierten Kultur der Zusammenarbeit. Sie gehen ihre Arbeit aus einem anderen Blickwinkel an und fühlen sich dabei wohler.

Früher klagten viele über Stress und Überbelastung, die Krankheitsausfälle waren deutlich höher.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen in den Vordergrund zu rücken, bedeutet auch, sich in andere einfühlen zu können. Sowohl Mitarbeitende wie auch Bewohnerinnen geben an, sich mit ihrem Gegenüber besser identifizieren zu können. Dies stärkt das Vertrauen und steigert die Motivation.

Nach nunmehr vier Jahren kennen alle Mitarbeitenden des Konrad-Manopp-Stifts das Pflege- und Betreuungsmodell Mäeutik und sind mit dessen Methoden und Instrumenten vertraut. Es hat den Regelbetrieb in allen drei Wohnbereichen erreicht.

Unter dem Slogan Training on the Job wird der Lernerfolg sichergestellt. Mitarbeitende werden in ihrer Praxis von den Prozessbegleitern unterstützt und bekommen Gelegenheit zu Reflexion und Zusammenarbeit im interdisziplinären Team. Über regelmässige Basis- und Aufbaukurse werden die Kenntnisse und Methoden nachhaltig gestützt.

Der Prozess der Implementierung ist mit Zeit, Geduld, Kreativität und hoher Flexibilität aller Beteiligten verbunden.

Dieser Aufwand, ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung der Veronika- Stiftung Rottenburg, hat sich sehr gelohnt.

Sicherheit, Selbstbewusstsein und eine höhere fachliche Professionalität bei den Mitarbeitenden sowie eine erlebensorientierte Kultur sind Erfolge der Mäeutik, wie sich seit deren Implementierung im Konrad-Manopp-Stift gezeigt hat.

Cora van der Kooij im Gespräch

Quelle Youtube


Experten

Ludwig Geißinger ist Einrichtungsleiter des Seniorenzentrums Konrad-Manopp-Stift in Riedlingen. Er ist interner Trainer für Mäeutik in der Paul Wilhelm von Keppler Stiftung.

Elke Strauß ist Krankenschwester, Dipl. Pflegewirtin und Geschäftsführerin der Akademie für Mäeutik in Köln. Ausserdem ist sie tätig als Trainerin für Mäeutik und verantwortlich für die Projektbegleitung, Akquise und die Ausbildung der Trainerinnen und Trainerbegleitung.

Wir danken dem medhochzwei-Verlag für die Gelegenheit der Zeitverwertung dieses Beitrags, der in der Zeitschrift Pro Alter 4/18 erschienen ist.