Rico, der genügsame Jubilado - demenzjournal.com

Pflege in Panama (2)

Rico, der genügsame Jubilado

Andrea Mühlegg-Weibel im Gespräch mit Rico. PD

Die Demenz-Expertin Andrea Mühlegg-Weibel reist durch Mittelamerika – und arbeitet dort als freiwillige Pflegerin. Im zweiten Teil ihres Erfahrungsberichts aus Panama erzählt sie die Geschichte des Rentners Rico.

«Goal für die Schweiz», jubelt Rico während des Freundschaftspiels gegen Panama. Wir sitzen im Wohnraum des Casa de Asilo und wie immer flimmert der Fernseher. Trotz des kläglichen Spielverlaufs für Panama sind die Männer mit Interesse und Emotionen dabei.

Es amüsiert sie, dass ich aus der Schweiz komme. Wir einigen uns darauf, dass vermutlich die Kälte für das Schlussresultat 6:0 verantwortlich ist.

Rico arbeitete sechzehn Jahre in der Freihandelszone am Panamakanal, heute ist er 69 Jahre alt und ein Jubilado – Pensioniert auf Panamesisch. Er wechselt in seinen Erzählungen von Spanisch zu Englisch und Französisch, sogar ein wenig Chinesisch spricht er.

Schlafraum im Casa de Asilo, Hund Quinn darf nie fehlen.

Auf einem Spaziergang durch Bocas zeigt er mir das Dorf seiner Kindheit. Wir kommen an seinem Geburtshaus vorbei, besuchen das Grab seines Vaters, den alten Baum mit den essbaren Früchten und waten am Meer entlang.

Fast jede Ecke ist ihm noch vertraut. Manchmal sind seine Erinnerungen verschwommen mit der Gegenwart, seine Sprache etwas holprig und der Gang unsicher. Etliche Bekannte begegnen uns und begrüssen Rico herzlich. Anna aus dem Minisupermarkt schenkt uns drei Äpfel, wir werden ins Haus von Celeste zum Kaffee eingeladen und essen bei Maria einen Duros.

Lesen Sie den ersten Teil des Erfahrungsberichts:

Pflege in Panama (1)

Das Frauenzimmer von Bocas del Toro

Andrea Mühlegg-Weibel vermittelt als Leiterin von Sonnweid der Campus Demenz-Wissen. Derzeit reist sie durch Mittelamerika und arbeitet dort als freiwillige Pflegerin. weiterlesen

Vor zehn Tagen zog Rico von Colon, einer Stadt am Panamakanal, nach Bocas ins Asilo. In Panama kümmern sich die Familien um ältere Menschen, deshalb reagierten die Freunde mit Unverständnis auf Ricos Entscheid. Angebote von Bekannten, die gerne für ihn sorgen möchten, lehnte er ab.

«Ich bin zufrieden mit meinem Bett. Das Essen ist gut im Asilo, das genügt mir», meint er lächelnd. «Manchmal ist es mir ein wenig langweilig, aber dann erinnere ich mich an die riesigen Schiffe auf dem Panamakanal.»

Ricos tiefe Zufriedenheit mit dem Leben berührt mich sehr.

In Panama sind die Strassen oft in einem sehr schlechten Zustand, gleichzeitig teilen sie sich Taxis, Kleinbusse, Velofahrer, Strassenverkäufer, Fussgänger und Hunde. Der viele Regen auf der tropischen Insel sammelt sich in Gräben, die Gehsteige sind immer wieder unterbrochen und schwer zu überwinden, eine wahre Odyssee für uns. Kein Wunder, sehen wir selten ältere Menschen unterwegs.

Blick in die kleine Heimküche.

Nach dem Spaziergang lockt mich der Duft von Gewürzen in die kleine Heimküche. Reis mit Bohnen, Spagetti, kreolisches Huhn und Gemüse köcheln über dem Feuer in grossen Töpfen. Marta und Alicia sind für die Küche verantwortlich. Stolz zeigen sie mir den Menüplan für diese Woche.

Auf einem handgeschriebenen Zettel steht für jeden Morgen eine Art Mehlsuppe, das Hauptgericht am Mittag mit frischem Gemüse oder Salat und am Abend gibt es Fingerfood – Toastbrot mit einer Auflage oder eine gebackene Teigtasche und warmen Gewürztee. 

Etliche Bewohner haben keine Zähne, da hilft der Tee als Tunke. Diätkost scheint im Asilo kein Thema. Abends verzichten sie auf Teller und Besteck, denn das ganze Geschirr und alle Küchenutensilien werden in einem winzigen Abwaschbecken mit kaltem Chlorwasser gereinigt.

Mehrmals täglich helfe ich beim Abwasch und werde dafür grosszügig mit Essen verköstigt. Jedem Hygieneverantwortlichen würde es bei diesen Zuständen vermutlich grauen, da auch noch die Katzen und der Heimhund Quinn in die Küche und alle übrigen Räume dürfen.

Am Freitag werden jeweils die Produkte angeliefert, dann sitzt die Administradora (Heimleiterin) stundenlang im Garten und führt Buch über jedes Paket Zucker, Mehl, Reis, Seifen, WC-Papier usw.

Chlorwasser für den Abwasch.Andrea Mühlegg-Weibel

Kürzlich fand eine staatliche Kontrolle statt. Als einzige Beanstandung kam die Anordnung, dass Quinn aus hygienischen Gründen das Haus verlassen muss. Die Bewohner, Mitarbeiter und Freunde des Asilo waren entsetzt über den Bericht.

Der gute Quinn lebt seit acht Jahren im Heim und ist für viele ein wenig Trost und ein treuer Freund im doch etwas eintönigen Alltag. Glücklicherweise konnten sie die Behörden umstimmen, mussten aber versprechen, dass Quinn nicht mehr in die Küche darf. Dafür haben die Mengen an verwendetem Chlorwasser noch zugenommen.

Nach fast sechs Wochen reisen wir weiter. Der Abschied fällt uns schwer. Gerne erinnern wir uns an die herzlichen, genügsamen und tollen Menschen hier im karibischen Alltagsparadies.