Der palliative Weg steht im Vordergrund - demenzjournal.com

Palliative Care

Der palliative Weg steht im Vordergrund

Da das Leiden immer multidimensional beeinflusst ist durch körperliche, emotionale, soziale und spirituelle Ursachen, können wir letztlich nicht alles abnehmen oder zum Verschwinden bringen. Bild Dominique Meienberg

Das Palliativ-Konzept gehört zu den Leitgedanken der Sonnweid und macht die Linderung im Betreuungsalltag erlebbar. Drei Fallbeispiele zeigen seine Umsetzung im Alltag auf – und die Möglichkeiten und Grenzen des Linderns.

Palliative Care ist nicht nur ein Konzept, sondern eine Haltung. Wichtig bei der palliativen Begleitung und Pflege von Menschen mit Demenz sind die einfühlende Kommunikation und der Aufbau von Beziehung – vom Eintritt ins Heim bis zum Tod. 

Wir alle, vor allem aber Menschen mit Demenz, brauchen Menschen, die bis zuletzt in Beziehung mit einem bleiben. Die einfühlsame Kommunikation gibt dem Bewohner zu spüren, dass er ernst genommen wird, dass wir Interesse daran haben, was für ihn in diesem Moment bedeutsam ist. Dies stützt das Erleben von Würde.

Bild Dominique Meienberg

Wenn die Sprache nicht mehr da oder eingeschränkt ist, wird der Kontakt auf der Gefühlsebene von zentraler Bedeutung. Wir versuchen, die verbalen und nonverbalen Äusserungen immer wieder aufmerksam zu verstehen und zu deuten und die Bewohner gut zu beobachten.

Nur so können wir auch belastende Symptome wie Schmerzen, Angst, Unruhe etc. erkennen und lindern. Diese Haltung ist das Fundament einer wirksamen palliativen Betreuung und Pflege. Das Palliativ-Konzept verweist im Punkt «Begleitung von Menschen mit Demenz in ihrem Leben» auf das Leitbild der Sonnweid.

Unsere Bewohner werden vom Eintritt an palliativ begleitet. Das Ziel der Begleitung ist immer die bestmögliche Lebensqualität für alle Bewohner mit ihren individuellen Bedürfnissen. Diese Begleitung kann Monate oder Jahre dauern. 

Vielfach wird Palliative Care mit «End-of-life Care», der Sterbebegleitung, assoziiert. Dies ist nicht falsch, die Sterbebegleitung ist jedoch nur ein (wichtiger) Teil von Palliative Care. Wir müssen uns bewusst sein, dass sich Palliative Care auch an Menschen mit einer chronischen Erkrankung richtet. Palliation leitet sich vom lateinischen Wort «Pallium» ab und bedeutet auf Deutsch «Mantel» oder «Hülle».

«Unser Ziel ist die bestmögliche Linderung von belastenden Symptomen. Es sollte uns aber bewusst sein, dass dies nicht immer ausreichend gelingen kann.»

Auch auf der Tag/Nacht-Station der Sonnweid, die betreuende Angehörige temporär entlastet, versuchen wir, jedem Bewohner seinen eigenen Mantel zu schneidern. Dies ist nicht immer einfach, besonders bei den Bewohnern, die nur für kurze oder seltene Aufenthalte zu uns kommen. 

Um einen passenden Mantel zu schneidern, müssen wir den Bewohner kennenlernen, uns an ihn herantasten. Herauszufinden, mit welchen Massnahmen wir einem Menschen den Tag erhellen und erleichtern können, ist manchmal eine Detektivarbeit. Natürlich helfen dabei Arztberichte und Aussagen von Angehörigen.

Manchmal muss man auch aushalten können  

Da das Leiden immer multidimensional beeinflusst ist durch körperliche, emotionale, soziale und spirituelle Ursachen, können wir letztlich nicht alles abnehmen oder zum Verschwinden bringen. Manchmal müssen wir auch aushalten können, zusammen mit dem betroffenen Menschen.

Die Linderung von belastenden Symptomen trägt zu einem grossen Teil zur Verbesserung der Lebensqualität bei und gelingt vielfach gut. Dass auch wir manchmal an Grenzen stossen, möchten wir mit drei Fallbeispielen aufzeigen.  

Fallbeispiele aus der Praxis

Herrn L.s Mantel braucht stets Anpassungen

ss. Herrn L. kennen wir nun schon einige Jahre. Er wird zu Hause von seiner Frau gepflegt. Er kommt zu ihrer Entlastung jede Woche einige Tage oder auch für Ferien zu uns auf die Tag/Nacht-Station. Er ist stark auf Pflege angewiesen, ist aber den ganzen Tag auf den Beinen. Mal ist er schnell, mal langsam unterwegs in Haus oder Garten. Herr L. ist still geworden, er spricht nur noch selten wenige spanische Worte. Seinen Gesichtsausdruck können wir mittlerweile gut deuten.

Oft sieht er gehetzt aus, mit gequältem Blick, eine tiefe Furche zwischen den Augen. Seit wir Herrn L. kennen, beschäftigt uns immer wieder, wie wir ihm mehr Ruhe ermöglichen können. Manchmal plagen ihn auch Schmerzen, besonders nachdem er gestürzt ist. Weil er heute schneller ermüdet, begleiten wir ihn immer wieder von seinen Ausflügen zurück auf unsere Station. Nur selten kommt noch eine Andeutung seines früheren Strahlens, wenn er uns erblickt.

Manchmal möchte er nicht mitkommen, dann führen wir ihn auf Umwegen auf unsere Station. Ins Wohnzimmer, wo die anderen Bewohner sitzen, geht er nicht gerne. Deshalb bieten wir ihm ruhigere Orte zum Verweilen an. Er schätzt es und hält unsere Hand, wenn wir uns neben ihn setzen. In der Vergangenheit war es nicht einfach, ihn mit Medikamenten zu unterstützen. Bis die richtigen mit der besten Dosierung gefunden wurden, brauchte es Zeit und Anpassungen. Wenn wir das Gefühl haben, er wirke jetzt entspannt, schläft er mehr.

Die Müdigkeit erschwert aber seiner Frau die Pflege zu Hause. So ist es oft ein Balanceakt zwischen unseren Vorstellungen und den anderen Bedürfnissen zu Hause. Nun hat es sich aber so eingespielt, dass wir auf genügend Ruhepausen achten oder auch einmal die Reservemedikamente einsetzen. Schon immer hat Herr L. das Essen geliebt. Als er noch den ganzen Tag unterwegs war, servierten wir ihm immer eine doppelte Portion. Heute haben wir auf eine Portion reduziert, können ihm aber eine Freude machen mit kleinen Zwischenmahlzeiten oder einem Apfelsaft. Jeden Tag sein Befinden zu beobachten, ist eine Herausforderung. Aber es ist wichtig, dass wir seinen Mantel stets anpassen.

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Bei Herrn M. stösst die Linderung an Grenzen

yp. Herr M. (63) ist an einer seltenen Form der frontotemporalen Degeneration erkrankt. Als er zu uns kommt, spricht er in Satzfragmenten und leidet unter verschiedenen Symptomen. Auffallend sind die unkontrollierten und schnellen Bewegungen seiner Extremitäten. Er kann nicht mehr selbstständig gehen und schlägt überall mit Armen und Beinen an. Er versucht immer wieder aufzustehen und läuft Gefahr, zu stürzen. Wir richten ihm ein Matratzenlager ein, auf dem er seinen Bewegungsdrang in Sicherheit ausleben kann. Seine unwillkürlichen Bewegungen, unter denen er sehr leidet, lindern die Heimärzte in Absprache mit seinen Angehörigen mit Medikamenten.

Andere Symptome, wie zum Beispiel Juckreiz, können wir mit pflegerischen und medikamentösen Massnahmen lindern. Durch verbale und nonverbale Äusserungen von Herrn M. müssen wir davon ausgehen, dass er starke Schmerzen hat. Die darauf folgende medikamentöse Schmerztherapie mit Opiaten gestaltet sich schwierig. Zweimal stellen wir auf ein anderes Opiat um, da Herr M. Unverträglichkeiten zeigte. Während der Pflege, die meist von zwei Mitarbeitenden durchgeführt wird, versucht Herr M. mitzuhelfen und sich zu äussern. Herr M. scheint unter der Situation zu leiden. Durch aktives Zuhören und validierende Gesprächsführung möchten wir Herrn M. zeigen, dass wir ihn ernst nehmen und mit ihm sind.

Die grosse Unruhe, die Herr M. plagt, kann eine Zeit lang etwas verringert werden, verschwindet jedoch nie ganz. Die unkontrollierten Bewegungen werden geringer. Die Situation und das Wohlbefinden von Herr M. scheinen sich zu bessern. Einige Monate später: Die Unruhe nimmt stetig zu. Herr M. wehrt sich aggressiv gegen die Pflege. Er schreit, schimpft, schlägt und kratzt. Auch im bequemen Lehnstuhl findet Herr M. keine Ruhe, immer wieder flucht und schreit er. Das Reduzieren von möglichen Stressfaktoren (bequeme Kleidung anziehen, frühzeitiger Positionswechsel, Massnahmen gegen Durst, Hunger und Verstopfung etc.) zeigt wenig bis keine Wirkung.

Die Situation ist für Herr M., seine Familie und unser Team sehr belastend. Für die Heimärzte (Mediziner und Psychiater) ist die medikamentöse Einstellung schwierig. Schon vor Eintritt in die Sonnweid wurde Verschiedenes ausprobiert, das nicht zum Erfolg führte oder von Herrn M. nicht vertragen wurde. Seit ein paar Wochen bekommt er ein wenig gängiges Medikament. Nach deutlicher Entspannung für zirka zwei Wochen ist Herr M. nun akut verwirrt. Die Situation konnte durch Veränderung der Medikation wieder etwas beruhigt werden, ist aber für alle Beteiligten immer noch sehr belastend.

Es wird klar, dass ein vorübergehender Aufenthalt im sicheren Rahmen einer Psychiatrischen Klinik nötig ist. Dort soll ein weiterer Versuch unternommen werden, die Medikamente einzustellen. Dies wird mit der Familie besprochen, die einverstanden ist. Der Aufenthalt wird daraufhin von unserer Heimpsychiaterin vorbereitet. Herr M. befindet sich nun seit fünf Wochen dort.

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Frau B. ist mal ohnmächtig, mal schlägt sie zu  

ss. Frau B. kommt mit der Ambulanz als Notfall aus einem Spital zu uns. Wir erhalten Pflegerapport, Arzt- und Laborberichte. Wegen erhöhtem Pflegeaufwand wurde sie von zu Hause ins Spital eingewiesen. Dort wurde ein Harnwegsinfekt festgestellt. In den Unterlagen ist nicht ersichtlich, dass Frau B. ein Antibiotikum erhalten hat. Sie hat aber pflanzliche Tabletten gegen den Infekt erhalten. Frau B. scheint zu schlafen beim Eintritt. Die Ambulanzfahrer sagen, dass sie immobil sei. Sie wirkt sehr zerbrechlich. So staune ich, als ich sie kurze Zeit später auf dem Bettrand sitzend vorfinde. Sie kommuniziert klar mit mir, sagt, dass sie aufstehen möchte. Sie scheint sich recht wohl zu fühlen – bis sie auf die Toilette muss, zu der sie in Begleitung von zwei Pflegepersonen gehen kann. Dort krümmt sie sich, hält ihren Bauch und klagt über starke Schmerzen.

Bald sehen wir, dass die arme Frau B. verstopft ist, dass sie sich wahrscheinlich schon mehrere Tage nicht mehr erleichtern konnte. Das Abführmittel, das sie erhält, bringt nur teilweise Linderung. Plötzlich verliert sie das Bewusstsein und muss mit dem Rollstuhl zurück ins Bett gebracht werden. Dort wird sie bald wieder wach, krümmt sich zusammen und klagt laut. Sie tritt nach uns, versucht, uns zu schlagen. Sie scheint in einem Delir zu sein. Das Schmerzmittel, das sie später bekommt, hilft nur kurz. Der herbeigeeilte Arzt verordnet auf die Annahme hin, dass der Harnwegsinfekt wieder aktiv ist, ein Antibiotikum. Dass Frau B. am Abend rote Wangen und erhöhte Temperatur hat, scheint dies zu bestätigen.

In den folgenden Tagen erholt sich Frau B. recht gut. Sie ist nun täglich mehrere Stunden auf den Beinen, spaziert alleine oder in Begleitung umher. Sie ist zwar sturzgefährdet, geniesst es aber, sich selbstständig auf der Abteilung zu bewegen. Um sie dabei zu schützen, erhält sie Sturzhosen mit Hüftprotektoren. Während der Nacht liegt eine Kontaktmatte vor ihrem Bett, damit die Nachtwache hört, wenn Frau B. aufsteht. Frau B. geniesst es, in der Stube zu sitzen und Musik zu hören. Wenn dann neben ihr noch ein Apfel ihrer Lieblingssorte liegt, den sie bei Bedarf essen kann, ist sie sehr zufrieden. Doch leider hat sie immer wieder diese Momente, in denen sie das Bewusstsein verliert und wir sie ins Bett bringen müssen.

Wir vermuten, dass sie Absenzen hat, eine Art epileptischer Anfälle. In diesen Momenten müssen wir sie und uns vor ihren Aggressionen schützen. Nach zwei Wochen verlässt sie nun die Sonnweid. Während dieser Zeit versuchten wir, ihren Mantel so angenehm wie möglich zu schneidern. Wir erreichten dies, indem wir Grundbedürfnisse befriedigten, Schmerzen linderten, Schutz boten und Freude bereiteten.