alzheimer.ch: Frau Wenske, wie kann man Menschen in Pflegesituationen helfen, in denen Gewalt vorherrscht, beispielsweise durch Überforderung?

Elke Wenske: Solange keine wirklich schweren Misshandlungen zu Hause stattfinden und jemand partout keine Hilfe annehmen will, sollte man Menschen nicht zwingen. Es ist am Ende niemandem geholfen, wenn man im «Hau-Ruck-Verfahren» vorgeht, weil damit nur weitere Missstände produziert werden.

Man muss sozusagen von hinten durch die Brust ins Auge Überzeugungsarbeit leisten. Würde man sagen: «Bei Ihnen läuft das jetzt so und so und fertig!», dann ist dies pädagogisch verfehlt. Man braucht Zeit, um das Sinnvolle herauszufinden. Ich kenne im Moment niemanden, der aus seiner Situation zu Hause geholt werden müsste.

Da wird niemand grün und blau geschlagen oder psychisch unter Druck gesetzt. Es wird mal jemand angeschrien, es fällt mal jemand hin – das passiert, auf beiden Seiten. Dass aber jemand im Bett liegen gelassen oder vernachlässig würde, ist mir nicht bekannt. Im Gegensatz dazu sehe ich vielmehr Menschen, die daheim gepflegt werden und dreimal besser aussehen als solche, die ich in manchen Heimen sehe. 

Gewalt in der familialen Pflege

In einer deutschen Studie wurden 254 pflegende Angehörige befragt: 48 Prozent gaben an, psychische Misshandlungen, 19 Prozent, körperliche Gewalt angewendet zu haben. Selten kam es zu Vernachlässigungen. Zum Vergleich: Unter 81 professionell Pflegenden aus acht stationären Altenheimen gaben in einer anderen deutschen Studie 70 Prozent an, sich gegenüber Heimbewohnern problematisch verhalten zu haben: 37 Prozent berichteten von Formen physischer und verbaler Misshandlung, 20 Prozent von körperlicher Gewalt, 27 Prozent von pflegerischer Vernachlässigung.

Der DAK-Pflegereport vom Oktober 2017 gibt an, dass sich 59 Prozent der pflegenden Angehörigen von Menschen mit einer Demenz am Ende ihrer Kräfte fühlen, neun von zehn fordern mehr Unterstützung, 86 Prozent mehr finanzielle Unterstützung. Nur zwei Prozent der Menschen mit Demenz sind in Wohngruppen untergebracht. (Unsere Autorin Melanie M. Klimmer hat diese Informationen ergänzend zum Interview mit Frau Wenske recherchiert)

Gibt es Kontrollmechanismen?

Wirksame Kontrollen in Privathaushalten durch die gesetzlich vorgeschriebenen, ambulanten Beratungseinsätze (nach §37 deutsches SGB XI) gibt es nun wirklich nicht.

Kontrollinstanzen, die Beseitigung aufgedeckter Mängel und Prävention kosten Geld. Ich vermute, dass hier das Wirtschaftlichkeitsgebot dem Menschenwohl voransteht. Andererseits möchte ich mich nicht von einem System kontrolliert wissen, das unter dem Vorwand der Prävention Geld zu sparen versucht.

Wie war das bei Ihnen am Anfang?

Es ist schon so, dass man aus Überforderungssituationen heraus ungehalten werden kann. Solche Dinge passieren. Am Anfang bin ich einmal vor dem Rollstuhl gestanden und habe gebrüllt, und mein Mann hat zurückgebrüllt. Wir haben uns gegenseitig angebrüllt. Wir wussten aber keine bessere Lösung.

Elke Wenske

Die 52-Jährige engagiert sich seit 2014 als pflegende Angehörige im Verein «wir pflegen – Interessenvertretung begleitender Angehöriger und Freunde in Deutschland e.V.», wo sie Landessprecherin für die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz ist. «Wir pflegen» setzt sich für die Verbesserung der Situation pflegender Angehöriger ein und wendet sich besonders gegen drohende Altersarmut durch familiale Pflege. Seit diesem Jahr gibt es erstmals eine eigene Arbeitsgruppe, die sich dem lange tabuisierten Thema Gewalt in der häuslichen Pflege zuwendet. Wenske pflegt seit mehr als 15 Jahren ihren halbseitig gelähmten Ehemann zu Hause. 2002 hatte dieser ein lebensbedrohliches Hirnaneurysma. Ausserdem begleitet Wenske ihren Vater, der seit 2009 wegen eines Schlaganfalls in einem Pflegeheim lebt.

Das eigentliche Problem ist nach wie vor: Es ist tatsächlich nicht einfach, ein passendes und finanzierbares Hilfsangebot zu finden. Die ambulante Tagespflege für meinen Mann muss ich zum Beispiel privat bezahlen und es kostet ein Vermögen! Eigentlich müsste ich ihn aus finanziellen Gründen herausnehmen, doch mache ich es nicht, weil er sich dort wohlfühlt, Fortschritte macht und ich habe Freizeit.

Es fehlt also an passenden Hilfsangeboten, um der Gewalt in der häuslichen Pflege vorzubeugen?  

Ja, es fehlen überhaupt die Angebote. Und diejenigen, die es gibt, sind oft nicht attraktiv genug. So, wie es bei meinem Mann der Fall ist: Er ist eigentlich zu jung. In der Tagespflege sind aber hauptsächlich hochbetagte Schwerstpflegefälle und Menschen mit Demenz.

Für die Angehörigen sind dann die von der Pflegeversicherung bezahlten und bezahlbaren Angebote auch oft wieder zu starr, zu wenig flexibel, was aber Angehörige unbedingt brauchen.

Das ist zum Beispiel bei «SOwieDAheim» der Fall. Es ist ein ehrenamtliches, ambulantes Projekt, das ursprünglich aus Schottland kommt: Private Leute öffnen für fünfeinhalb Stunden ihren Haushalt. Die Haushalte sind über den gesamten Kreis verteilt.

Zu den Privatleuten kommt ein geschulter Betreuer hinzu. Zu zweit oder zu dritt beschäftigen sie dann bis zu fünf Personen mit Hilfebedarf. Sie essen zusammen, machen wirklich etwas miteinander. Seither spricht mein Mann wieder etwas – obwohl er eigentlich nicht mehr reden kann.

Einem Angehörigen bedeutet so ein Anlaufpunkt sehr viel, gerade wenn eine flexible Betreuung möglich ist, zum Beispiel wenn man eben mal in den Supermarkt oder zum Arzt gehen will, kann man auch eine Einzelbetreuung erhalten. Da hatten wir mit SODA Glück.  

Sie sagen, Sie hatten Glück, ist das Glück vorbei?

Leider hat SODA im Juli 2016 die Anerkennung als Tagespflege wieder verloren. Nun kann ich nur noch den «Entlastungsbetrag» von 125 Euro erhalten. Es fehlen mir jetzt die Möglichkeiten der Finanzierung und ich überlege mir, wie viele andere auch, ob ich meinen Mann dort noch hingeben kann.

Ellen Wenske mit ihrem Mann Gerhard Glauer.Bild PD

Wer vermittelt in einer solchen, strukturell scheinbar schwierigen Betreuungssituation allein oder in bedrückenden Verhältnissen lebende Menschen?

Zum Beispiel ich als Nachbarin? Man muss sich zusammen hinsetzen und reden. Eigentlich ist die Antwort darauf zunächst verhältnismässig einfach: Alles, was Vertrauen schafft, macht es am Ende möglich, dass Menschen sich öffnen und Neues zulassen. Allein davon sind wir in unserem System weit entfernt.

Ich kannte eine Dame mit Hilfebedarf, den sie zunächst ablehnte. Sie bekam eine Betreuerin, die einen Pflegedienst eingeschaltet und einen Tagespflegeplatz organisiert hat. Dann fiel auf, dass sie nicht dortbleiben wollte.

Wenn man der Dame anfangs gesagt hat «Wir gehen aus!», hat sie sich aufgebrezelt , kam aber total mürrisch zurück. Sie war mit ganz anderen Erwartungen dorthin gegangen, im Sinne von «Jetzt passiert endlich etwas Tolles!». Stattdessen wurde sie da hingesetzt und es passierte nichts.

Man kann mit einem einzigen Angebot auch nicht alle Pflege- und Hilfsbedürftigen unter einen Hut bringen. SODA wäre vielleicht besser für sie gewesen. Beim Sozialamt, das die Dame unterstützte, wäre die Finanzierung aber vermutlich niemals durchsetzbar gewesen. 

Hinzu kommt, dass Betreuer oft über Alternativangebote zu wenig Bescheid wissen. Und am Ende macht doch jede Entlastung dem Pflegeverantwortlichen auch zusätzlich viel organisatorische Arbeit. Diese wird immer mal wieder zu viel und man lässt es dann lieber bleiben.»

Vielen Dank für das Gespräch.

Dr. Albert Wettstein im Videointerview: Was unternimmt man bei einem Verdacht und wie können sich pflegende Angehörige selbst schützen?

Interview mit Dr. med. Albert Wettstein von der Fachstelle der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter

Menschen mit Demenz sind Häufig Gewalt ausgesetzt alzheimer.ch/Marcus May