«Denken findet nicht im Kopf statt» - demenzjournal.com

Kinaesthetics

«Denken findet nicht im Kopf statt»

Gute Betreuung und Pflege bedeutet, Menschen mit Demenz zu zeigen, wie sie etwas selbst tun können. Bild Véronique Hoegger

Stefan Knobel entwickelt als Kinästhetik-Experte Methoden, die Menschen mit Demenz mehr Bewegung und Lebensqualität ermöglichen. alzheimer.ch sprach mit ihm über festgefahrene Bewegungsmuster, Positionswechsel und die Unsinnigkeit von Stühlen.

alzheimer.ch: Herr Knobel, wie bringen Sie Bewegung in Ihren Alltag?

Stefan Knobel: Bewegung ist immer da, wir können uns nicht nicht bewegen. Ich versuche aber, die Aktivitäten zu variieren. Zum Beispiel wechsle ich oft die Position, auch wenn ich Büroarbeit mache. Ich arbeite mal am Tisch, mal am Boden.

Wir haben diese Blocs (Knobel holt drei Kunststoff-Blöcke, legt sich seitwärts daneben und zeigt, wie er seinen Laptop auf die Blöcke legen oder sich auf den Blöcken abstützen kann). Ich lege mich auch auf den Bauch und stelle den Laptop vor mir auf den Boden. Es gibt einen Imperativ: Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten steigt!

Die meisten Menschen sitzen im Büro den ganzen Tag.

Dies führt oft zu engen Mustern. Durch solche Muster haben wir weniger Möglichkeiten und werden fragil. Wenn etwas Überraschendes geschieht, haut es uns um. In unserer Kultur verlieren viele alte Menschen ihre Beweglichkeit. Dies hat nur wenig mit dem Alter zu tun, sondern viel mehr mit ihrem Verhalten.

Stefan Knobel

Stefan Knobel ist von Beruf Maschinenmechaniker, Pflegeexperte, Erwachsenenbildner und Kinaesthetics-Ausbildner. Er ist Mitbegründer der European Kinaesthetics Association (EKA) und leitete während 15 Jahren den Ressourcenpool Curriculum und die Forschung der EKA. Er engagiert sich als Präsident der stiftung lebensqualität und Projektleiter für die Implementierung von Kinaesthetics in Ländern wie Weissrussland, Rumänien, Bosnien-Herzegowina oder Japan und ist Herausgeber der Zeitschrift Lebensqualität.

Büromenschen gehen zum Ausgleich ins Fitness. Ist dies ein guter Weg?

Ja. Fitness und Kraft sind wichtig und geniessen heute ein hohes Ansehen. Wir müssen die Fitness und Kraft aber intelligent einsetzen. Dazu gibt es das vor 150 Jahren entdeckte Weber-Fechner-Gesetz. Es beschreibt die Reizschwelle von Sinnesorganen.

Je niedriger der Grundwert ist, desto sensibler bemerken wir Unterschiede. Dies gilt auch für die Muskeln: Je gespannter, desto unsensibler sind sie. Wenn ich nur Kraft trainiere, trainiere ich die Unsensibilität. Dies birgt Verletzungsrisiken.

Sollen wir zum Ausgleich Yoga und Meditation machen?

Es geht darum, die Spannung gezielt einzusetzen. Wir brauchen eine differenzierte und ökologisch kluge Bewegung. Dies kann man mit Kinaesthetics lernen. 

Kinder können zum Besipiel nicht schön und fehlerfrei schreiben, wenn sie die Spannung nicht anpassen können. Ihnen fehlt oft die Bewegungskompetenz.

Demnach liegt in unserer Gesellschaft viel im Argen.

Wenn wir stehen, sitzen oder liegen, passen wir unsere Position immer wieder ganz fein der Schwerkraft an. Die Kybernetiker haben entdeckt: Diese unspektakuläre Bewegung ist der wichtigste Einflussfaktor auf unsere Gesundheitsentwicklung.

Beim Sitzen kann ich Gewicht in der Schwerkraft in vielen Varianten bewegen. Wenn ich dies bewusst wahrnehme und gestalte, beeinflusse ich damit meine Gesundheit.

Wir haben da offenbar viel zu lernen …

Viele Menschen meinen, Bewegung sei gesund. Sie denken dabei an Bergwanderungen oder sportliche Fahrten mit dem Fahrrad. Aber diese Art von Bewegung kann auch sehr schädlich sein. Viele Spitzensportler leiden mit 40 an Überlastungsschäden. Hobby-Sportler haben kaputte Gelenke.

Es ist sehr gut, wenn wir durch den Wald rennen und den Puls hochjagen. Die Quantität der Bewegung ist das eine. Viel wichtiger ist aber die Qualität in den Alltagsaktivitäten. Wie organisiere ich die Bewegung, wenn ich zum Beispiel hier beim Interview sitze?

Sie wechseln immer wieder die Position. Sie lehnen zurück und kommen nach einigen Augenblicken wieder nach vorn. Mal haben Sie die Beine gestreckt, mal angezogen, mal übereinander geschlagen. Inwiefern hängen geistige und körperliche Bewegung zusammen?

Denken findet nicht im Kopf statt. Hirnforscher können nachweisen, dass eine Entscheidung bis zu 13 Sekunden vorher in körperlichen Prozessen gemessen werden kann. Wir haben ein motorisches System, ein sensorisches System und ein zentrales Nervensystem. Alle drei Komponenten sind plastisch.

Stefan KnobelBild PD

Das heisst: Wenn wir viel Gewicht heben, werden das Skelett und die Muskeln stärker. Auch das sensorische System ist plastisch. Ein Master of Wine trainiert seine Sensorik zu unglaublichen Fähigkeiten.

Das zentrale Nervensystem ist ebenfalls plastisch. Wenn wir unsere Alltagsherausforderungen vielfältig meistern, entstehen vielfältige neuronale Verknüpfungen. Das bedeutet, dass wir diese Systeme solange wir leben in Richtung mehr Möglichkeiten beeinflussen können.

Wie entwickelt sich der Bewegungsapparat während einer Demenzerkrankung?

Meine These ist: Demenz ist eine Ganzkörpererkrankung, die ich nicht auf das Hirn reduziere. Weil man diese Plaque nachweisen kann, sagt man: Das muss der Grund sein. In einer Studie hat man entdeckt, dass die Nerven von Nonnen zwar ebenso viele Plaque aufweisen, die Gesamtzahl an Demenzerkrankten aber wesentlich kleiner ist als bei der Normalbevölkerung.

Es muss also noch andere Einflussfaktoren geben. Demenz ist keine Einbahnstrasse, denn auch Menschen mit Demenz können lernen. Auch die Annahme, dass Demenz immer auch zum körperlichen Zerfall führt, ist aufgrund meiner Erfahrung nicht richtig.

Damit unterstellen Sie den Pflegenden, dass sie etwas falsch machen, wenn Menschen mit Demenz in ihrer Obhut bettlägerig werden.

Ich meine dies nicht als Vorwurf. Die Situation ist oft so komplex, dass man nicht herausfindet, was man tun kann, um mehr Möglichkeiten zu entwickeln. Unsere Theorien beeinflussen aber unser Handeln.

Wenn ich annehme, dass Demenz zum körperlichen Zerfall führt, habe ich keinen Grund, etwas dagegen zu tun.

Wenn ich weiss, dass auch die Unfähigkeit gelernt ist, suche ich zusammen mit dem Betroffenen nach Möglichkeiten, etwas anderes zu lernen.

Gibt es bei jedem Menschen mit Demenz Möglichkeiten, ihn länger in Bewegung zu halten?

Grundsätzlich ja. Aber in vielen Fällen sind wir wahrscheinlich zu wenig kreativ. Wir wissen noch zu wenig.

Lernvideo mit Stefan Knobel – Kinästhetik bei Menschen mit Demenz

Kinästhetik bei Menschen mit Demenz

Die Methoden der Kinästhetik sind im Betreuungsalltag sehr hilfreich alzheimer.ch/Marcus May

Als Spezialist verfügen Sie über ein grosses Repertoire.

Auch wir, die uns professionell mit Kinaesthetics befassen, haben erst am Lack gekratzt. Wenn wir sagen, Lernen ist lebenslang möglich – auch mit einer Demenz –, passiert etwas Neues. Wir sind dann nicht mehr gefangen in einer Welt von selbsterfüllenden Prophezeiungen.

Ihr Vater war trotz Demenz bis an sein Lebensende mobil. Wie haben Sie dies erreicht?

Mein Vater war Obstbauer. Ich pflegte mit ihm weiterhin seinen Obstgarten. Er arbeitete so viel, wie er mochte. Wenn er die Äpfel in den Keller trug, füllten wir die Kisten nur zu einem Viertel. So konnte er sich als wirksam erfahren. Zusätzlich haben wir mit ihm täglich an der Bewegungskompetenz gearbeitet. Wir gingen mit ihm drei- bis viermal täglich auf den Boden und standen gemeinsam wieder auf.

So, wie Sie es bei der Arbeit machen.

Genau. Und anstelle seines Bettes bekam er einen Futon am Boden. Der Grund dafür ist: Bei zu hoher Körperspannung helfen Aktivitäten, die eine Spannungsreduktion erfordern.

Kinaesthetics vermittelt auch, wie wir unseren Körper ökonomischer einsetzen können. Haben Sie Ihren Vater auch in dieser Weise unterstützt?

Wir haben ihm zum Beispiel immer wieder gezeigt, dass er einfacher aus dem Bett kommt, wenn er sich zuerst über die Schultern auf die Seite rollt. Wenn ich ein paar Tage weg war, hatte er es wieder verlernt. Aber er lernte es wieder. Menschen mit Demenz lernen neue, eingeschränkte Bewegungsmuster blitzschnell.

Ist Bewegungsvielfalt schwieriger zu lernen?

Das ist so. Eine Betreuerin führte während drei Tagen meinen Vater von vorne an beiden Händen. Er lernte blitzschnell, mit ihr zusammenhängend zu gehen. Dadurch verlernte er, allein zu stehen. Diese Einschränkung zu verlernen, dauerte ziemlich lange.

«Wer hilft, verhindert Entwicklung», heisst eine Redewendung. Kann man Menschen mit Demenz ins Bett pflegen, wenn man sie zu sehr unterstützt?

Das Wort ‹helfen› ist pervertiert worden. Echte Hilfe führt zu mehr Kompetenz und Selbstständigkeit.

Gezielte, professionelle Hilfe heisst: Muster unterstützen, damit Menschen selbstständiger werden.

Menschen mit Demenz brauchen unsere Hilfe, weil sie sonst nicht mehr aus einschränkenden Mustern herausfinden.

Wie funktioniert dies in der Praxis?

Das Problem entsteht, wenn man die Menschen manipuliert und sie durch Hilfe die Kontrolle der eigenen Bewegung verlieren. Anstatt Menschen zu bewegen, geht es darum, ihnen zu zeigen, wie sie es selbst tun können. Wenn das gelingt, entsteht auch weniger Aggression.

«Echte Hilfe führt zu mehr Kompetenz und Selbstständigkeit», sagt Stefan Knobel.Bild Daniel Kellenberger

Die Zeit für Betreuung und Pflege wird immer knapper. Pflegende müssen am Morgen eine bestimmte Anzahl von Menschen mit Demenz pflegen und mobilisieren.

Wenn ich ein paar Sekunden mehr ins Aufstehen investiere, spare ich im Laufe des Tages Zeit, weil ich einen Echoraum schaffe, der verständnisvoll ist. Wir sagten unserem Vater, er solle sein Hemd selbst ausziehen. Das war für ihn schwierig und dauerte, weil seine Schultern nicht mehr beweglich waren.

Solange er aber diese Anstrengung auf sich nahm und die Arme nach oben brachte, konnte er sich selbst waschen, kämmen und vieles mehr. Wenn wir also gezielt mehr Zeit einsetzen, bleiben Menschen mit Demenz selbstständiger, und wir brauchen weniger Zeit für ihre Unterstützung.

Wie gehen Sie mit Sturzgefahr um?

Wenn Menschen Angst haben vor dem Boden, strecken sie sich und fallen tiefer. Wenn ich mit ihnen regelmässig auf den Boden gehe, lernen sie, sich zu beugen und das Gewicht mit den Armen zu kontrollieren. Wenn sie dann fallen, verletzen sie sich weniger. In Pflegeheimen, die gezielt mit dieser Idee arbeiten, sinkt die Verletzungshäufigkeit massgeblich.

Wenn man Ihnen zuhört, fragt man sich, warum die Menschen auf die dumme Idee gekommen sind, sich auf Stühle zu setzen.

Kaiser und Könige setzten sich zuerst auf Throne. Das Volk machte es ihnen nach. Es ist tief verwurzelt in unserer Kultur. Der Chef bekommt einen grösseren Sessel als die Mitarbeiter.

Bei meiner Arbeit in Rumänien fand ich einen weiteren Grund. Dort gibt es auf dem Land keine geteerten Strassen. Es gibt sehr viel Schmutz, der in die Häuser kommt. Dort ist der Stuhl ein Segen, weil man sich nicht auf den schmutzigen Boden setzen muss. In Japan zieht man die Schuhe spätestens einen halben Meter hinter der Haustür aus. In Europa haben wir dies nicht geschafft.

Gibt es bei Ihnen zu Hause Stühle?

Wir haben nur am Küchentisch Stühle. Im Wohnzimmer setzen wir uns auf den Boden. Dies hat auch den Vorteil, dass nichts zu Boden fallen kann – besonders, wenn Kinder oder alte Menschen da sind.