«Oft ist alles vorhanden, nur wird es nicht richtig eingesetzt» - demenzjournal.com

Interview zu Palliative Care

«Oft ist alles vorhanden, nur wird es nicht richtig eingesetzt»

Dr. Andreas Weber, Leiter Palliative Care, GZO Spital Wetzikon Screenshot Marcus May

Das Spital Wetzikon leistet Pionierarbeit in Palliative Care. alzheimer.ch sprach mit dem ärztlichen Leiter der Wetziker Palliative Care, Andreas Weber, über neue Methoden und die Herausforderungen der Zukunft.

alzheimer.ch: Doktor Weber, was verstehen Sie unter Palliative Care?  

Andreas Weber: Unter Palliative Care versteht man die Betreuung und Pflege von Menschen mit einer unheilbaren, voranschreitenden Krankheit. Es geht in erster Linie darum, trotz dieser schweren Krankheit noch möglichst gut zu leben und schliesslich würdevoll zu sterben.

Die eigentliche Sterbebegleitung ist nur ein Teil der Palliative Care, denn diese setzt bereits früher ein – mit der Diagnose der Krankheit. Meistens bleibt danach eine Zeitspanne, während der man noch eine relativ hohe Lebensqualität geniesst. Man kann noch Ziele erreichen oder wichtige Dinge erledigen. Bereits in dieser Phase können wir viel Unterstützung leisten.

«Palliative Care»

«Palliare» ist lateinisch und heisst «umhüllen» oder «einen Mantel umlegen». Das englische «care» bedeutet «Betreuung» und macht deutlich, dass sich neben Ärzten und Pflegenden auch andere Berufsgruppen wie Seelsorge oder Sozialdienste umfassend um das Wohl des Betroffenen kümmern.

Seit wann spricht man von Palliative Care in der Medizin?  

In den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts griff die Engländerin Cicely Saunders die alte Tradition der Sterbehospize wieder auf und gründete das St.Christopher’s Hospice in London. Dort erhielten unheilbar Kranke nebst medizinischer Betreuung auch emotionale, spirituelle und soziale Unterstützung.

In der Schweiz begann man damit in den Siebzigerjahren. In den vergangenen 20 Jahren wurde die Diskussion intensiver geführt, vor allem im Zusammenhang mit der Nationalen Strategie von Bund und Kantonen, die 2009 ins Leben gerufen wurde.

Was ist das Ziel dieser Kampagne?  

Jeder Bewohner der Schweiz mit einer unheilbaren Krankheit soll Zugang zu einer guten palliativen Betreuung erhalten, wo immer er sich aufhält.

«Ärzte müssen dazulernen. Bei der Ausbildung zum Arzt geht es grundsätzlich um den Erhalt und das Retten von Leben. Irgendwann kommt dieses Ideal an seine Grenzen.»

Was bedeutet das für die Ärzteschaft?  

Ärzte müssen dazulernen. Bei der Ausbildung zum Arzt geht es grundsätzlich um den Erhalt und das Retten von Leben. Irgendwann kommt dieses Ideal an seine Grenzen, nämlich dort, wo es um die Aufrechterhaltung von Lebensqualität und schliesslich um eine würdige Art zu sterben geht. Für viele Ärzte bedeutet das ein Umdenken, wir stellen hier aber grosse Fortschritte fest.

Wie sind Sie zur Palliative Care gekommen?  

Durch meine Arbeit im Gesundheitsmanagement und als Anästhesist, wo ich viel mit Schmerztherapien zu tun hatte. Zudem hatte ich ein persönliches Erlebnis: Als mein Vater vor zwölf Jahren unheilbar an Krebs erkrankte, merkte ich, wieviel noch fehlte, wieviel aber auch mit einfachen Mitteln und relativ wenig Aufwand machbar wäre. 

Und: Was eine bessere Vernetzung mit Gemeinde, Hausarzt und Spitex für den Kranken bei sich zu Hause bringen kann. Oft ist alles vorhanden, nur wird es nicht richtig eingesetzt. Bei der Pflege zu Hause sind es meist die Angehörigen, die zuerst an ihre Grenzen stossen.

In diesem Zusammenhang ein Beispiel: Freunde und Nachbarn sollen die Angehörigen nicht einfach besuchen, was oft als Belastung empfunden wird, sondern sie sollen sich organisieren und zum Beispiel Sitzwachen übernehmen. 

Die Bereitschaft dazu ist erstaunlich hoch und führt zu einer enormen Entlastung für alle. Und so läuft es auch in anderen Bereichen. Bei starken Schmerzen beispielsweise können wir mit ein, zwei Besuchen unseres Teams vor Ort eine Situation wieder über Wochen stabil halten, die sonst möglicherweise entgleisen und zu einer Notfall-Hospitalisation führen würde.

Sie leiten das Palliative-Care-Team im Spital Wetzikon. Wie setzt es sich zusammen?  

Unser Team besteht im engsten Sinn aus vier Pflegefachfrauen und mir als leitendem Arzt sowie meiner Stellvertreterin. Die Pflege arbeitet zu 60 Prozent draussen, also bei den Menschen zu Hause. Je nach Situation stehen uns Fachleute zur Seite, die wir beiziehen können: Seelsorger, Psychologinnen, Physiotherapeuten.

Für die palliative Grundversorgung verlassen wir uns in der Regel auf den Hausarzt, die Spitex und Fachkräfte wie medizinische Spezialisten oder Komplementärmediziner. Wir knüpfen also situativ und individuell das für den jeweiligen Patienten optimale Betreuungsnetz. Dieses Networking betrachte ich als eine unserer Hauptaufgaben.

Das Entscheidende bei dieser Teamarbeit ist der Informationsfluss. So gehört beispielsweise zu jedem Betreuungsfall eine E-Mail-Verteilerliste, mit welcher per Mail regelmässig alle Involvierten, inklusive Angehörige und die Patientin selber, wenn sie das wünscht, mit einer kurzen Verlaufsnotiz über Veränderungen des Zustandes und der Behandlung auf dem Laufenden gehalten werden.

Das GZO Spital Wetzikon hat in der Palliative Care eine Vorreiterrolle in der Schweiz. Was machen Sie anders?  

Das spezielle an unserem Team: Arzt und Pflege lernen die Patienten bereits im Spital kennen und begleiten sie dann auch zuhause. Ich bin absolut überzeugt von diesem Modell, denn so gelingt es uns, den betroffenen Menschen sehr viel Angst zu nehmen.

Wenn wir einer schwerkranken Patientin im Spital sagen können, dass wir sie am nächsten Tag zu Hause aufsuchen werden, zusammen mit der Spitex, dem Hausarzt und anderen wichtigen Personen, wie Nachbarn und Freunden, um dort gemeinsam zu besprechen, was es zu tun gilt, vermitteln wir ihr damit ein hohes Mass an Sicherheit. Die Patientin getraut sich so eher, das Spital wieder zu verlassen.

Lebensverlängernde Massnahmen

Das Spital Wetzikon leistet Pionierarbeit in Palliative Care alzheimer.ch/marcus May

Die Entlassung geschieht so viel zielgerichteter, als wenn man die Betreuung alleine auf den Spitalaufenthalt beschränkt. Es erstaunt mich immer wieder, dass in manchen Spitälern immer noch die Meinung vorherrscht, einen so todkranken Patienten könne man nicht mehr entlassen. 

Diese Ärzte können sich nicht vorstellen, was bei einer palliativen Pflege zu Hause alles möglich ist, weil sie es selbst nie erlebt haben. Wenn man einem Menschen in seiner eigenen Umgebung begegnet, bekommt man viel mehr von seiner Persönlichkeit mit als an einem anonymen Spitalbett. Das zu erleben ist für uns immer wieder befriedigend.

Es gibt viele Hürden in der Administration. So benötigten wir beispielsweise eine spezielle Zulassung, damit die Leistungen unserer Pflege, die sie bei einem Patienten zu Hause erbringt, abgerechnet werden kann.

Warum hat sich dieses Modell bisher nicht breiter durchgesetzt?  

Es gibt viele Hürden in der Administration. So benötigten wir beispielsweise eine spezielle Zulassung, damit die Leistungen unserer Pflege, die sie bei einem Patienten zu Hause erbringt, abgerechnet werden kann. Wenn wir jemanden in einem Pflegeheim betreuen, geschieht das heute noch unentgeltlich. Auf Dauer sind das unhaltbare Zustände. Aber wir arbeiten daran, dies zu verbessern.

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Wird die Arbeit Ihres Teams intensiver, je länger eine Krankheit fortschreitet, bis sie schliesslich zum Tod führt?  

Das ist ganz unterschiedlich. Wir verstehen unseren Einsatz als subsidiär, das heisst, wir wirken unterstützend, ob im Spital, im Pflegeheim oder zu Hause. Wie gesagt: Die wichtigsten Betreuungsaufgaben leisten die Leute zu Hause, diejenigen, welche die Grundbetreuung gewährleisten.

In Akutsituationen wie Schmerzen, Atemnot oder Erbrechen kann es zuweilen vorkommen, dass wir eine Zeit lang täglich präsent sind, bis die Situation wieder unter Kontrolle ist.

Es kommt aber auch vor, dass wir während Wochen nichts hören. Vielleicht mal eine E-Mail, es verlaufe alles normal. Irgendwann erhalten wir dann die Nachricht, der Patient sei verstorben. Unser Engagement hängt auch sehr von den jeweiligen Hausärzten ab. Je erreichbarer sie für den Patienten sind, desto weniger werden wir kontaktiert. Generell gilt: Wie der Verlauf einer Krankheit sein wird, ist häufig nicht voraussehbar. Da haben wir schon manche Überraschung erlebt.

Weil die Menschen länger gesund bleiben und die Zeitspanne, in der sie Pflege benötigen, immer kürzer wird, wird es in Zukunft auch eine grosse Herausforderung sein, jeweils den richtigen Zeitpunkt für das Umschwenken von der kurativen, krankheitsbezogenen zur palliativen, Leiden lindernden Betreuung zu finden.

Wir werden immer älter. Welche Herausforderungen stellen sich hier der Palliative Care?  

Durch die demografische Entwicklung haben wir in Zukunft viel mehr ältere Menschen, die am Ende ihres Lebens angekommen sind. Hinzu kommt die Entwicklung der Medizin, die es ermöglicht, das Leben des Einzelnen zu verlängern.

Hier gibt es viel Verbesserungspotenzial, vor allem bei der Information der Betroffenen: Was sind die Chancen und Risiken einer lebensverlängernden Massnahme? Macht sie noch Sinn? Was sind die positiven Aspekte, was sind die Belastungen, was die Nebenwirkungen? Damit soll der Patient befähigt werden, selber abzuwägen, wieweit er noch gehen will. Hier gibt es noch viel zu tun.

Ich persönlich bin überzeugt: Wenn man dem Patienten die Grenzen der Medizin mit dem Fortschreiten der Krankheit deutlich aufzuzeigen vermag, setzt er selbst seine Grenzen. Heute sind wir in der Situation, dass meistens zu viel gemacht wird. Oft auf Verlangen hin, weil die Informationen über die objektiven Grenzen einer lebensverlängernden Massnahme mangelhaft sind.

Weil die Menschen länger gesund bleiben und die Zeitspanne, in der sie Pflege benötigen, immer kürzer wird, wird es in Zukunft auch eine grosse Herausforderung sein, jeweils den richtigen Zeitpunkt für das Umschwenken von der kurativen, krankheitsbezogenen zur palliativen, Leiden lindernden Betreuung zu finden.