Ein Tag des Scheiterns - demenzjournal.com

Selbstversuch

Ein Tag des Scheiterns

Michael Schmieder hat während seines Selbstversuchs ein Aufnahmegerät dabei gehabt. Hören und sehen Sie hier seine unmittelbaren Eindrücke von einem Tag in der Oase alzheimer.ch/Marcus May

Michael Schmieder hatte sich vorgenommen, 24 Stunden lang auf der Oase in der Sonnweid zu liegen. Er wollte hautnah erfahren, wie es sich anfühlt, ans Bett gefesselt zu sein. Trotz seines Scheiterns hat das Experiment zu wertvollen Erkenntnissen geführt.

Das habe ich mir wirklich anders vorgestellt. Es kann doch nicht so schwer sein, sich einen Tag und eine Nacht lang ins Bett zu legen, liegen zu bleiben und nichts zu reden. So hatte ich es geplant: um 9 Uhr morgens in die Oase der Sonnweid zu gehen und einmal während 24 Stunden das zu machen, was viele Menschen immer machen – einfach nur liegen.

Angefangen hatte es ja damit, dass ich den Termin schon einmal verschoben habe, aus fadenscheinigen Gründen. Dieses Mal konnte ich nicht weichen, wollte ich meine Glaubwürdigkeit in der Sache nicht verlieren. Mit mulmigen Gefühlen und irgendwie traurig machte ich mich auf ins C4, wurde herzlich begrüsst, das Bett war parat. Dann legte ich mich hin und war damit Teil der Oase. 

Liegen, immer nur liegen …Bild Marcus May

Das beklemmende Gefühl ging nicht weg, den ganzen Tag nicht, ich kam mir fehl am Platz vor, konnte mich nicht in die Situation hineinbegeben. Natürlich war es so auch nicht möglich, nicht zu reden, was mir ja grundsätzlich schwer fällt (meine Frau Monika weiss ein Lied davon zu singen: aufwachen und los geht’s!).

Die Menschen um mich herum waren alle so freundlich und sprachen mit mir. Nach 30 Minuten schaute ich zum ersten Mal auf die Uhr, nach 25 wieder, dann wurden die Abstände immer kürzer. Um mich herum passierte zwar sehr viel, was ich auch hören konnte, aber nichts was mich selbst betraf.

So fühlte ich mich als Zwangsmithörer von Sätzen und Satzfetzen von Angehörigen, Mitarbeitern und Bewohnerinnen. Die Art und Weise wie mit den Kranken gesprochen wurde, erfreute mich ausserordentlich. Die Liebe, wie sich die Menschen begegneten.

Da war eine Haltung spürbar, wie mit Menschen überhaupt umgegangen werden soll. Das war gelebte Partnerschaft auf Augenhöhe. Es geht, es geht wirklich, ich habe es erlebt; und die kranken Menschen dürfen das täglich erleben. Danke an die guten Menschen.

Dann liegt man also da. Nichtsnutzig rumliegen würde ich es nennen. Ich halte mich selbst fast nicht aus, irgendwann essen, rasch vorbei, wieder liegen. Jetzt einmal der Versuch, eine Stunde liegen ohne bewegen. Wieder scheitern, fünf Minuten waren das höchstens. Ich habe mich zwar gut entspannt mit dieser Übung, bin dann aber eingedöst und habe mich wieder bewegt. Nicht möglich. Und immer wieder der Blick auf die Uhr : Es war noch nicht mal drei!

Hier ist das Zentrum der langsamen Langsamkeit, das Zentrum des Seins in Superzeitlupe.

Und dann wird mir klar, warum ich mir keine Badeferien auf den Malediven wünsche: Weil dort das Liegen, das Rumliegen als touristischer Wert verkauft wird, als Erholung. Und ich stell’ mir vor, dieses Bett mit mir drin steht am Sandstrand, ich liege darin und erhalte zu essen und zu trinken; ich kann hören und reden, ich habe keinen Handyempfang und weder Internet noch etwas zum Lesen.

Ich werde gefragt, ob ich was brauche. Und da stellt sich mir die Frage nach dem Unterschied zwischen der Oase Sonnweid und dem maledivischen Sandstrand. Warum streben wir nach diesem Liegen können in den Ferien?

Wir fliegen auf die Malediven um genau das zu machen, was ich hier auch mache: (sinnloses) rumliegen. Warum wird es dort Erholung genannt und hier Tortur?

Genügt der Blick aufs Meer, auf diese Endlosigkeit, um es anders zu bewerten? Oder ist es die Freiwilligkeit? Dass ich zu jedem Zeitpunkt entscheiden kann aufzustehen und mich wieder hinzulegen. Ferien sind legales Nichtstun, in der Oase liegen ist legales Nichtanderskönnen – für die Menschen dort. Aber im Nicht-Empfinden dieses Nichtanderskönnens könnte der Schlüssel darin liegen, dass für den Kranken selbst das Oase-Liegen gleich empfunden wird wie das Maledivenstrand-Liegen.

Das wiederum würde die Sache ja einfacher machen. Die Aussicht alleine macht es wohl nicht aus. Unterliegen wir letztlich nicht den Bildern, wie es zu sein hat und nicht, wie es ist? Ist Malediven-Strand nicht auch Oase-Liegen, wir bewerten es nur anders? Darin liegt der Unterschied.

Ich erlebe die Menschen hier als äusserst zufrieden, sie erhalten mehr als sie brauchen, jede Menge Zuwendung. Im Überfluss, würden die Ökonomisierungsapostel des Gesundheitswesens sagen – denen wäre das zu viel Zuwendung für die anderen. Für sich selbst wohl nicht, aber die können sich eine eigene Demenz eben nicht vorstellen.

Was entschleunigtes Personal bewirken kann, habe ich erlebt: Das, wofür wir uns jahrelang eingesetzt haben gibt es tatsächlich. Zuwendung wirkt, man stelle sich das vor!

Es ist halb vier. Ich bekomme Besuch von Herrn H. Ein langes Gespräch über Kraft und Stärke. Er, der Olympiateilnehmer, der Kranzschwinger, er lehrt mich, wie Kraft wichtig für sein Leben ist. Wir drücken mit den Armen, ich habe keine Chance, wieder scheitere ich.

Er findet oft die Worte nicht, dann versuche ich zu verstehen, spüre seine Beziehung zur Kraft, sein Leben als Muskelpaket, als Kraftmensch, der einen wunderbaren Umgang damit pflegt. Er streckt mir seine Fäuste ganz nahe vors Gesicht – ich habe keine Angst. Wir lachen, wir verstehen uns, danke.

Ich hab mir das so einfach vorgestellt: reinliegen, da sein, einschlafen, aufwachen, 9 Uhr abwarten, aufstehen, fertig. Es war mir nicht möglich. Oder der Wille dazu war nicht im notwendigen Masse vorhanden.

Wenn man die Minuten zählt, die Stunden rechnet, dann geht das so: 24 Stunden durch zwei, abends um neun ist die Hälfte vorbei.

Es ist aber erst vier Uhr, etwas mehr als ein Viertel ist geschafft. Nun beginne ich zum ersten Mal Argumente zu sammeln, warum ich abbrechen könnte: Zuhause schlafe ich besser, nur dort kann ich richtig schlafen… Ich habe eigentlich genug, die Beklemmung geht nicht weg, meine Rolle in der Sonnweid und dann schlafend auf der Oase… Macht das Sinn, was ich hier tu, habe ich mir das nicht anders vorgestellt? Aber wie.

Immer wieder regt es mich auf, wenn ich an einer Veranstaltung bin, sei es in der Kirche, im Theater oder an einem Konzert: Menschen verlassen vorzeitig den Ort und ich interpretiere das meist als Missfallen dem gegenüber, was vorne stattfindet. Man kann nicht mehr warten bis es fertig ist. Sonst vertrödelt man seine Zeit ja auch.

Man sitzt herum, schaut in die Glotze, ist auf Youtube, Pinterest oder sonst wo. Aber warten bis etwas fertig ist, das geht dann gar nicht.

Ja, diesen Effekt spürte ich auch. Ich konnte nicht mehr warten, nachdem ich mich entschieden hatte die Nacht nicht hier zu verbringen. Ich habe nicht lange mit mir gekämpft, ich gebe es zu. Zuerst hatte ich bis 21 Uhr geplant: 12 Stunden, die Hälfte. Und die Minuten wurden immer länger, Nachtessen in fünf Minuten und der Alltag war zurück.

Warten, da sein und nichts tun, einfach nur rumliegen. Ich meinte in den Augen der Mitarbeitenden Mitleid entdeckt zu haben. Oder war es Unverständnis? Einmal gesagt, dass ich früher aufhöre, kämpfte ich nur noch scheinbar mit mir, wann genau das sein sollte. Ob 21 oder 19 Uhr, macht das einen Unterschied? Die Sache war eh verloren. Ich konnte nicht mehr.

Wir scheitern nicht an den grossen Dingen. Dort vielleicht auch, aber es sind die kleinen Hindernisse, die uns im Weg sind.

Sie sind massgeblich dafür, was uns gelingt und was nicht. Ich war auf eine Art und Weise mit mir selbst konfrontiert, wie ich es nicht erwartet hatte. Das ‹nichts tun dürfen, nichts tun können› hat mir meine eigenen Grenzen aufgezeigt: wie wenig es braucht, um uns zu destabilisieren.

Was in den 10 Stunden Rumliegen letztlich wertvoll war, war mich selbst zu spüren. Viel wichtiger aber war es zu erfahren, wie unsere Mitarbeitenden zu den Bewohnerinnen und Bewohnern Beziehung lebten. So, wie ich es mir wünschen würde, sollte ich eines Tages auf der Oase liegen: Nicht weil ich will, sondern weil ich dannzumal nicht anders kann.


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