«Tiere fragen nicht, ob ein Mensch gesund ist» - demenzjournal.com

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«Tiere fragen nicht, ob ein Mensch gesund ist»

Urte Meve: «Ich mache nur das, was ich auch verantworten kann. Ich kenne die Unfallverhütungsvorschriften sehr gut. Aber ich kann auch niemanden in Watte packen. Ständig denken wir daran, was alles schief gehen kann, wo überall Gefahren lauern. Im Leben kann immer etwas passieren, jedem von uns.» Urte Meves

Wärme, Streicheln, Geborgenheit: Viele Menschen mit Demenz fühlen sich auf dem Bauernhof sehr wohl. In Schleswig-Holstein gibt es eine Reihe von Höfen, die Betroffene aufnehmen. Ein Besuch auf dem Meves-Hof.

Weite Landschaft, Felder, im Hintergrund ein paar Windräder, die sich in schnellem Tempo drehen. Kumuluswolken ziehen über den Himmel, nur selten hört man ein Auto oder einen Traktor.

Der Hof von Urte und Sönke Meves im norddeutschen Dithmarschen ist abgelegen, man kommt hier nicht mal so eben vorbei. Gleich am Eingang ein Willkommensgruss mit bunten Sommerblumen auf einem alten Holztisch.

Urte Meves ist auf dem Hof in Eddelak aus dem Jahr 1914 aufgewachsen, hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann Sönke. Ihre Eltern wohnen im Nachbarhaus, 2017 bekam ihr Vater die Diagnose Parkinson-Demenz, einige Jahre zuvor hatte er einen Schlaganfall.

«Ich wusste vorher wenig über diese Krankheit», sagt die 38-Jährige. Sie besuchte Arbeitskreise, machte eine Fortbildung, um mehr über Demenz zu erfahren und, seit 2018, Senioren auf ihrem Hof zu empfangen.

In Schleswig-Holstein gibt es seit 2015 das Projekt «Bauernhöfe als Orte für Menschen mit Demenz». Es ist eine Kooperation des Kompetenzzentrums Demenz in Schleswig-Holstein und der Landwirtschaftskammer des Bundeslandes. Das Projekt ist bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet worden. Derzeit sind 14 Bauerhöfe an dem Projekt beteiligt. Weitere Infos finden Sie hier.

Nicht nur Gruppen aus Pflegeheimen kommen zu ihr, auch einzelne Personen, damit die pflegenden Angehörigen Entlastung bekommen. Leistungen, die über die Pflegekassen abgerechnet werden können.

Darüber hinaus bietet die Bäuerin Angebote für Schulklassen, Kindergärten oder auch für Menschen mit psychischen Problemen. 17 Jahre war sie in einer Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen in Brunsbüttel tätig. Danach hat sie sich selbständig gemacht.

Menschen mit Demenz fühlen sich auf dem Meves-Hof wohl, auch wenn sie lediglich für ein paar Stunden dort sind. «Es braucht nur eine Katze vorbei zu kommen, und die Besucher sind plötzlich viel entspannter. Menschen mit Demenz haben oft feine Antennen. Da können sich manche Gesunde sogar eine Scheibe abschneiden», meint die Bäuerin.

Die Besucher dürfen die Tiere nicht nur streicheln, sondern auch mal füttern, etwa den Ziegen Eicheln, Kraftfutter oder – Ausnahme! – Spaghetti geben. Auch Urte Meves’ Vater kommt manchmal mit seinem Rollator zum Hof herüber, um die Tiere zu streicheln. Nur auf dem Rückweg hat er mitunter Schwierigkeiten, der Weg ist weit für ihn.

Gemütliches Zusammensitzen.Meves Hof

«Viele alte Menschen sind auf dem Land gross geworden. Wenn sie zu uns kommen, weckt das häufig Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend. Jeder reagiert hier unterschiedlich», sagt Urte Meves. «Ich bin immer gespannt, wenn Besucher kommen, die ich noch nicht kenne.»

An diesem Tag erwartet sie eine neue Gruppe aus einem Pflegeheim im Umland. In der «Vier-Jahreszeiten-Scheune» ist eingedeckt. Alte plüschige Sessel, dicke Teppiche, auf den Tischen Goldrandgeschirr. Und vieles, das aus einem Museum stammen könnte: ein alter Ofen, der beheizt werden kann, der Anhänger einer Pferdekutsche, ein giftgrünes Telefon, eine angestaubte Nähmaschine.

Im Hintergrund leise Schlagermusik aus den Sechzigern, «Schuld war nur der Bossa Nova». Auch hier sollen die Besucher in alte Zeiten eintauchen können, vielleicht kommen unerwartet Erinnerungen hoch, von denen sie später zehren.

Jetzt sitzen knapp zehn Senioren und ihre Betreuerinnen hier. Sie essen Kuchen, trinken Kaffee, schauen sich vorsichtig um, wippen leicht zur Musik. Die meisten sind still, man merkt, dass sie noch etwas fremdeln. Ein älterer Mann bricht das Schweigen und erzählt, er habe selbst mal einen Hof besessen.

Hin und wieder redet er Plattdeutsch, einige verstehen ihn, andere nicht. Dann hilft er einem anderen Mann, der Probleme beim Essen hat, reicht ihm den Kaffeebecher, bricht ihm ein Stück Kuchen ab.

Die Menschen in der Gruppe kennen sich, und wenn sie können, helfen sie sich auch.

Urte Meves verlässt kurz die Scheune und kommt mit einem Kaninchen zurück, das sie im Arm hält. Die Besucher dürfen es streicheln, sie freuen sich über das weiche Fell und werden gesprächiger. Auch eine Laufente lässt sich streicheln. Einer Besucherin fällt ein, dass Laufenten nützlich sind, weil sie die Schnecken im Garten fressen. In diesem Moment ist die Ente jedoch alles andere als nützlich – sie hat der Bäuerin in die Hand geschissen. Urte Meves bleibt gelassen, sie kennt das schon, und einige der Gäste lachen fröhlich.

Später, im Hühnerstall, fragt eine Frau mit Schalk im Gesicht: «Warum steht auf dem Kirchturm immer ein Hahn und keine Henne?» Sie gibt die Antwort selbst: «Damit der Küster nicht die Eier von oben runter holen muss.» Sie hat keine Mühe, sich an den Witz zu erinnern.

Draussen vor dem Hof pflückt Urte Meves jetzt Zitronenmelisse und Minze, die Gäste dürfen daran schnuppern. Die Pflaumen, die sie direkt vom Baum holt, verteilt sie gleich in die Runde. Neugierig kommen die Ponys an die Koppel, und einem Mann im Rollstuhl gelingt es, ein Pony zu streicheln.

Die Angus-Rinder auf der Weide bleiben auf Abstand. «Gar nicht so klein, dieser Hof», sagt der Mann, der Plattdeutsch spricht. Ob er früher tatsächlich einen Hof besessen hat? Er würde gern hier mitarbeiten, sagt er, und einige aus der Gruppe nicken.

Den Tieren ist es egal, ob die Menschen, die hierher kommen, dreimal dasselbe fragen. Ob das, was sie sagen, tatsächlich stimmt, und ob jemand einmal einen Hof besessen hat.

Auf dem Meves-Hof können sich die alten Menschen zeigen, wie sie sind, niemand weist sie hier zurecht, keiner bewertet sie. Es ist auch in Ordnung, wenn jemand keine Tiere anfassen möchte. So wie die Frau, die gleich am Anfang deutlich sagt, dass sie lieber Abstand halten möchte. Dafür schaut sie interessiert, was um sie herum passiert. Vielleicht wird sie beim nächsten Mal mutiger sein, wenn die Bilder sich gesetzt haben. Wenn sie sich vielleicht daran erinnert, wie sie als Kind auf einem Hof war, wo sie über Heuballen gesprungen ist. Der Meves-Hof fordert nicht, sondern macht Angebote.

Zum Schluss gibt es eine kleine Vorstellung im Hof: Eine Ziege balanciert geschickt über eine grosse Wippe. Als sie wieder unten ist, kickt sie entschieden eine Katze weg, die sich der Wippe genähert hat. Die Hierarchie bestimmt immer noch sie! Die Katze verschwindet schleunigst, und eine Frau, die bisher kaum gesprochen hat, sagt fröhlich: «Du bist ja wirklich eine alte Ziege!» Tiere als Türöffner. Der Weg ins Herz kann sehr kurz und direkt sein.

Aufrechterhaltung des Selbst ist zentral

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Urte Meves hat noch viel vor. Als die Gruppe abgefahren ist, erzählt sie, sie wolle auf dem Hof einen Garten der Sinne bauen, einen Bastelschuppen und eine Mitmachküche. In der Küche möchte sie Marmelade oder Säfte einkochen, um die selbst geernteten Früchte gleich zu verarbeiten und zu verkosten. Auch mit den Demenzpatienten. Und wenn die heisse Marmelade spritzt, Gläser auf den Fussboden fallen?

«Ich mache natürlich nur das, was ich auch verantworten kann, und kenne die Unfallverhütungsvorschriften sehr gut. Aber ich kann auch niemanden in Watte packen. Ständig denken wir daran, was alles schief gehen kann, wo überall Gefahren lauern. Im Leben kann immer etwas passieren, jedem von uns.»

Die Bäuerin träumt davon, dass Kinder und alte Menschen gemeinsam etwas auf ihrem Hof machen. Früher, meint sie, als mehrere Generationen auf einem Hof lebten, ging das ja auch. «Irgendetwas können die alten Menschen immer, auch wenn sie vieles vergessen.»