«Mögen Sie Poesie?» fragt Lars Ruppel in die Runde. 20 Menschen mit Demenz sitzen mit ihren Angehörigen und Betreuungspersonen im Aufenthaltsraums des Alterszentrums Oberwinterthur im Kreis. Die Frage löst bei den Bewohnerinnen und Bewohner noch nicht viel aus. Die meisten wirken in sich gekehrt.
Doch Ruppel, Slam Poet und Workshopleiter, lässt sich nicht beirren. «Das Reh springt hoch. Das Reh springt weit. Warum auch nicht — es hat ja Zeit», rezitiert er einen Vers von Heinz Erhardt. Die Angehörigen und Pflegenden sprechen die Verse mit, versuchen, die älteren Menschen einzubeziehen.
Erinnerungen wecken
Die Veranstaltung im Winterthurer Alterszentrum Oberi trägt den Titel «Weckworte». Lars Ruppel führt den Workshop mit dem Ziel durch, bei Menschen mit Demenz Erinnerungen zu wecken. Ihm geht es aber noch um mehr: «Angehörige und Pflegende sollen lernen, wie man Gedichte für Menschen mit Alzheimer vorträgt. Durch die neu entdeckte Freude am gesprochenen Wort werden Gedichte zum festen Bestandteil in der Pflege», erklärt Ruppel.
Weckworte
Lars Ruppel, geboren 1985, lebt in Berlin. Der Slam Poet bietet Workshops für verschiedene Gruppen, etwa Schulkinder oder Geschäftsleute. Er ist Leiter und Erfinder des Alzheimer Poesie Projektes «Weckworte». Entstanden ist es sozusagen aus der Not heraus. Als er erstmals für einen Workshop in einem Altenheim angefragt wurde, musste er feststellen, dass seine üblichen Techniken hier nicht verfingen. Darauf entwickelte Ruppel das Projekt «Weckworte» speziell für demente Menschen. «Natürlich kann keine Krankheit durch den Vortrag von Gedichten geheilt werden. Doch mein Ziel ist es, den Betroffenen ein würdiges und gutes Leben zu ermöglichen. Dazu gehört die intellektuelle und emotionale Begegnung auf Augenhöhe.»
Deshalb geht dem Weckworte-Vortrag eine Einführung für die Begleitpersonen voraus. Dort erklärt er, dass kurze Verse besser sind als lange Gedichte und dass Wiederholungen hilfreich sind. Zudem gelinge es besser, Menschen mit Demenz zu erreichen, wenn Körperkontakt stattfindet, erläutert er.
Die Runde wirkt nach den ersten Gedichten noch immer etwas unbeteiligt. Doch dann bringt Ruppel die Liebe ins Spiel. «Die stärkste Liebe ist jene zwischen Kindern und Eltern», sagt er und trägt dann Kurt Tucholskys «Mutters Hände» vor:
«Hast uns Stullen geschnitten und Kaffee gekocht und die Töpfe rübergeschoben und gewischt und genäht und gemacht und gedreht — alles mit deinen Händen.»
Mit Worten zu Tränen rühren
Bei jedem Vers nimmt er reihum die Hände der Anwesenden in seine, wie zum Dank, spricht sie direkt an, improvisiert, formuliert für die Männer andere Verse. Die direkte Ansprache wirkt. «Ja, das stimmt», murmelt eine Frau, als Ruppel ihr sagt, sie habe gewischt und genäht. Häufig sieht man ein Nicken. Es folgen weitere Verse, die Ruppel teils mehrfach wiederholt, damit die älteren Menschen mitsprechen können.
Mal lässt er ein Wort aus und die Bewohnerinnen ergänzen. Er spricht sehr klar und kraftvoll, aber auch sorgfältig und zart und findet so Zugang zu den Menschen. Manche Gedichte reichert Ruppel mit Bewegungen an und zum Schluss machen fast alle mit. Die Runde wirkt nun tatsächlich aufgeweckt, eine Frau hat gar Tränen in den Augen. «Hat es Ihnen gefallen?», fragt Ruppel abschliessend. Die Antwort ist einhellig: «Ja, sehr.»