«Es ist kein Beruf, den man einfach mal so macht» - demenzjournal.com

Junge Pflegende

«Es ist kein Beruf, den man einfach mal so macht»

Die Betreuung von Menschen mit Demenz erfordert manchmal viel Geduld. Bild Dominique Meienberg

Sabrina Suter und Florian Meisetschläger arbeiten als junge Pflege- und Betreuungsfachkräfte im Demenzzentrum Sonnweid. Im Interview sprechen sie über ihre Motivation, herausforderndes Verhalten der Bewohner und professionelle Distanz.

alzheimer.ch: Wann und auf welche Weise kamen Sie erstmals mit Demenz in Kontakt?

Florian Meisetschläger: In der neunten Klasse absolvierte ich ein zweiwöchiges Praktikum in der Altenpflege. Eigentlich hatte ich schon immer mit Demenz zu tun. Meine Grossmutter arbeitete für die Spitex, da bin ich ab und zu mitgefahren. Später erkrankte meine andere Grossmutter an einer Demenz.

Sabrina Suter: Bei mir war es in einem Praktikum, das ich vor meiner Ausbildung in einem Altersheim absolvierte.

Menschen mit Demenz verhalten sich oft nicht konform. Wie haben Sie dies zu Beginn erlebt? Waren Sie unsicher?

FM: Als Kind war es für mich ganz normal, dass sich Menschen mit Demenz anders verhalten. Später, während der Ausbildung, dachte ich manchmal: Was ist denn hier los? Ich hatte Hemmungen und fragte mich, wie man mit diesen Menschen umgeht und spricht. Ich sprach oft mit meiner Familie und mit Arbeitskollegen darüber. Wenn man so aufwächst wie ich, fällt einem der Einstieg leichter.

Florian MeisetschlägerBild Véronique Hoegger

Es ist Nachmittag, und Sie beide kommen gerade von der Arbeit. Hat es heute auf Ihrer Abteilung schwierige Situationen gegeben?

SS: Ja, wir haben einen Bewohner, dessen Stimmung sehr schwankend ist. Es gibt Stunden, in denen er aggressiv reagiert. Er kann laut und handgreiflich werden. Heute hat er laut geschimpft. Er ist als Feriengast bei uns und versteht nicht, warum er nicht nach Hause gehen kann.

Wie haben Sie darauf reagiert?

SS: Ich betreute ihn eins zu eins und gab ihm das Reserve-Medikament, damit er nicht noch aggressiver wird. Erst wollte er kein Mittagessen, aber nachdem ich mit ihm gesprochen hatte, beruhigte er sich.

FM: Auf der Oase, wo ich arbeite, sind die meisten Bewohner bettlägerig. Wir haben aber einen Bewohner, der uns oder seine Mitbewohner am Arm packt, wenn er etwas will. Er hat neben seiner Demenz eine Schizophrenie. Fünf Minuten nach meinem Arbeitsbeginn forderte er mich schon heraus. Nach einer Tasse Kaffee und einem Dessert war er wieder zufrieden. 

Auf der Oase gibt es derzeit Bewohner, die stundenlang singende, manchmal auch rufende Geräusche machen. Als Aussenstehender weiss man jeweils nicht, ob sie es aus Freude oder Unzufriedenheit tun. Wie gehen Sie damit um?

FM: Bei der Dame ist es eher ein Verlangen nach Aufmerksamkeit. Wenn sie lauter wird, können es auch Schmerzen sein. Beim Mann sind wir nicht so sicher. Wenn wir zu ihm gehen und ihn beruhigen, wird er leiser und wirkt zufriedener. Sobald wir weggehen und uns um andere Bewohner kümmern, wird er wieder lauter.

Sabrina SuterBild Véronique Hoegger

Wie definieren Sie schwieriges oder herausforderndes Verhalten?

SS: Die Bewohner unserer Abteilung sind für Entlastungsaufenthalte von einigen Tagen oder Wochen bei uns. Die meisten sind körperlich in recht gutem Zustand. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt und wollen nach Hause.

Es ist für uns eine grosse Herausforderung, ihnen zu vermitteln, warum sie bei uns sein müssen. Ich versuche sie so gut wie möglich zu unterstützen, indem ich ihnen sage: Zusammen schaffen wir es!

Nehmen die Bewohner Ihre Hilfe an?

SS: Die meisten tun es. Andere lassen sich nicht helfen und werden aggressiv.

Nehmen die Bewohner der Oase die Unterstützung der Pflegenden an?

FM: Bei uns besteht die Schwierigkeit, dass die meisten Bewohner nur noch nonverbal kommunizieren können. Es ist nicht einfach, ihre Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen. Man muss auf ihre Körpersprache achten.

So gesehen liegt die Schwierigkeit mehr in Ihrer Aufgabe als im Verhalten der Bewohner…

FM: Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Aufmerksamkeit, die wir den Bewohnern geben. Der Bewohner mit Schizophrenie, der weniger Pflege braucht, merkt, dass wir den anderen Bewohnern mehr Zeit widmen. Er zeigt immer wieder, dass er da ist und Aufmerksamkeit braucht – unter anderem, indem er uns oder andere Bewohner am Arm packt.

SS: Bei uns kommt es stark auf die wechselnde Zusammenstellung der Bewohner an. Es gibt Bewohner, die sich untereinander nicht verstehen. Ein Bewohner schimpft manchmal in unangepassten Worten, und die anderen regen sich darüber auf – es ist schwierig, weil wir ihn ja nicht isolieren können. So kommt es sicher einmal wöchentlich zu sehr schwierigen Situationen.

Es gibt auch Bewohner, die sehr schnell wütend werden und die Betreuerinnen in verletzenden Worten beschimpfen. Wie reagieren Sie?

SS: Ich darf das nicht persönlich nehmen, ich weiss ja, dass es zu seinem Krankheitsbild gehört.

Wichtig ist, dass ich solche Situationen mit dem Team bespreche. So finden wir eine Lösung, sind abgesichert und können die Distanz wahren.

Eine Ihrer Kolleginnen sagt, dass die verletzenden Worte sie bis in die Träume verfolgen…

SS: Ich versuche mich abzugrenzen. Wenn das Verhalten sehr schwierig ist, kann ich es im Rapport oder an den Teamsitzungen ansprechen. Dort fragen wir jeweils, ob jemand etwas los werden will. Manchmal spreche ich auch zuhause darüber. Aber bis jetzt ist es mir gelungen, die professionelle Distanz zu wahren.

FM: Ich bin seit sieben Jahren im Beruf und habe gelernt, damit umzugehen. Im Sanitätsdienst erlebte ich Schlimmeres als in der Sonnweid. Zum Beispiel, als ein Mann am Herbstfest in Rosenheim mit einer zerbrochenen Mass Leute bedrohte.

Wie gehen Sie damit um, wenn Menschen mit Demenz handgreiflich werden und Sie körperlich verletzen?

SS: Eine unserer Bewohnerinnen war nach einem Sturz im Spital und kam dann wieder zurück. Als ich sie am Bettrand mobilisieren wollte, biss sie mich in den Arm. Sie hatte starke Schmerzen und konnte dies auf keine andere Art ausdrücken. Man muss es richtig einordnen können.

Menschen mit fortgeschrittener Demenz brauchen viel Pflege – und wehren sich manchmal dagegen. Wie gehen Sie damit um?

SS: Ich denke, bei solchen Bewohnern sollte man nur das Nötigste machen. Es ist nicht sinnvoll, sie täglich zu duschen – es darf auch mal eine Katzenwäsche sein.

Oft kommt es bei der Intimpflege zur Verweigerung. Geht es einfacher, wenn Männer von Männern und Frauen von Frauen gepflegt werden?

FM: Das kann man so nicht sagen. Es gibt viele Männer, die lieber von Frauen gepflegt werden. Und da kommt es, wie andernorts auf alzheimer.ch  beschrieben, manchmal zu sexuellen Komplikationen – zum Beispiel, wenn ein Bewohner erregt ist und mehr will…

SS: Wir haben einen Bewohner, der Frauen gerne am Po berührt. Ich sage ihm jeweils, dass ich das nicht will. Für einen Moment geht es gut, aber dann vergisst er es wieder. Wir haben eine Ethik-Sitzung zu diesem Bewohner gemacht.

Mit welchem Resultat?

SS: Bei solchen Bewohnern sind wir aufmerksamer und gehen etwas mehr auf Distanz. Wir sagen ihm, dass wir es nicht wollen. Wichtig ist auch, dass sein Verhalten dokumentiert wird.

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Gibt es Bewohnerinnen, die von Ihnen als Mann mehr als Pflege erwarten?

FM: In der Sonnweid habe ich dies noch nicht erlebt. Aber als ich 18 war und in einem anderen Heim arbeitete, wollte eine 106-Jährige, dass ich sie in der Nacht besuche oder mit ihr duschen gehe. Ich sagte ihr, ich sei zu jung für sie und wolle dies nicht. 

Sie liess aber nicht locker und sagte, dass ihr letzter Liebhaber auch jung – 71 Jahre – gewesen sei. Ich finde das nicht so schlimm, auch wenn sie mir einfach mal ans Bein greift und eine gewisse Grenze nicht überschreitet. Ein Kollege kam damit nicht zurecht und kündigte wegen dieser Frau.

Wenn ich mit alten Menschen aus Deutschland spreche, bin ich immer wieder erschüttert über ihre Schilderungen aus dem Krieg. Können diese Traumatisierungen Auslöser sein für herausforderndes Verhalten im Alter?

FM: Vielleicht. Es gibt in den deutschen Altersheimen auch Männer, die erzählen, wie geil es war im Schützengraben mit Onkel Adolf. Manche Bewohner beschimpfen Pfleger aus dem Ausland und sagen, unter Hitler sei es besser gewesen.

SS: Wir haben viele Bewohner aus dem Ausland. Ein Mann aus Kroatien will zum Beispiel unter keinen Umständen Coca-Cola trinken. Er will keine US-amerikanische Flagge in seiner Nähe haben und keine McDonald’s-Werbung schauen.

Sehr viele junge Menschen können es sich nicht vorstellen, Menschen mit Demenz zu betreuen und zu pflegen. Woher kommt Ihre Motivation?

SS: Mir wäre es in einem normalen Altersheim zu langweilig. Ich schätze die Herausforderungen, die sich hier stellen. Es ist viel spannender. Man muss Freude haben am Kontakt mit Menschen und darf keine Berührungsängste haben.[/filet]

FM: Man muss voll und ganz für die Sache da sein. Es ist kein Beruf, den man einfach so mal macht. Ich sah viele Praktikanten, bei denen man schnell wusste, dass sie bald wieder weg sind.

43 Prozent der Schweizer wären lieber tot als dement. Verstehen Sie das?

SS: Für mich ist es schwierig zu verstehen. Ich sehe hier viele Bewohner, die sehr glücklich sind. Die erste Phase der Krankheit ist oft sehr schwierig, weil die Betroffenen den Verlust wahrnehmen. Später können viele von ihnen das Leben auf eine andere Art geniessen, als wir es kennen.

FM: Meine Grossmutter hat eine beginnende Demenz und will nicht ins Heim, weil sie findet, dort seien alle verblödet. Später leben sie in ihrer eigenen Welt, und so lange man sie darin leben lässt, geht es ihnen gut.

Was aber in den Köpfen vorgeht, kann uns auch heute noch kein Forscher sagen. Die meisten Menschen, die sagen, sie wären lieber tot als dement, wissen nicht, worum es geht. Sie sehen nur die schlimmsten Fälle.


Sabrina Suter schloss im August 2015 Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) in der Sonnweid ab. Ihr letztes Ausbildungsjahr absolvierte sie auf der Tag/Nacht-Station. Danach Ausbildung zur Dipl. Pflegefachfrau HF am Universitätsspital Zürich.

Florian Meisetschläger absolvierte in Deutschland die Ausbildungen zum Sozialbetreuer und Pflegefachhelfer (zwei Jahre) und zum diplomierten Gesundheits-und Krankenpfleger (vier Jahre). Zur Zeit des Interviews arbeitete er in der Sonnweid, unter anderem auf der Oasen-Abteilung für schwer pflegebedürftige Menschen mit Demenz. Mittlerweile ist er in seine Heimat zurückgekehrt.