Frau Dr. Bopp, nach «Da und doch so fern» 2014 ist soeben Ihr zweites Buch «demenz.» erschienen. Konnten in der Zwischenzeit in der Medizin und der Gesellschaft Fortschritte im Umgang mit der Demenz verzeichnet werden? 

Irene Bopp-Kistler ist leitende Ärztin an der universitären Klinik für Akutgeriatrie im Stadtspital Waid in Zürich. Bereits vor 20 Jahren baute sie dort die erste Memory-Klinik in der Schweiz auf. Als eine der führenden Expertinnen im Bereich Demenz wirkt sie mit bei der Entwicklung der Demenzstrategie Schweiz und deren Umsetzung in den Kantonen.


Aus rein medizinischer Sicht haben wir trotz intensiver Forschung keine wesentlichen Meilensteine erreicht. Es gibt immer noch keine Wundermittel, um eine Demenz zu heilen. Die Herkunft und Entwicklung der Krankheit sind noch weitgehend unbekannt. Einzig die Symptome können teilweise medikamentös bekämpft werden. Wichtiger ist aber, die Behandlung ganzheitlich zu betrachten, das heisst auch auf gesellschaftlicher, sozialpolitischer, menschlicher und sogar spiritueller Ebene. Dieser ganzheitliche Ansatz ist der Kern meines zweiten Buches, das ich mit 60 Co-Autorinnen und -Autoren, Experten und Betroffenen, geschrieben habe.

«demenz.» – mit einem kleinen «d». Meinen Sie, wir sollten vor dieser Krankheit weniger Respekt und Angst haben?

Das ist eine interessante und auch richtige Interpretation! Demenz wird heutzutage öfter thematisiert und in der Gesellschaft sicher immer besser akzeptiert – das ist eine erfreuliche Entwicklung. Die Betroffenen wollen als Menschen wahrgenommen und respektiert werden. Dafür muss das Verständnis seitens Angehöriger und Staat gegeben sein.

Aus diesem Grund war mir der Punkt im Titel wichtig: es geht darum, alle Themen rund um die Demenz «auf den Punkt» zu bringen, ohne dabei ein Lehrbuch herauszugeben. Alzheimer wird z.B. oft erwähnt, betrifft aber nur etwa die Hälfte der Fälle. In «demenz.» werden zahlreiche andere Formen und Facetten der Krankheit angegangen.

Dr. med. Irene Bopp-KistlerBild Rüffer & Rub, Roland Brändli

Jeden Tag haben Sie neue Fälle. Wie gehen die Betroffenen und ihre Angehörigen mit einer solchen Diagnose um? Was sollte unternommen werden?

Die Reaktionen sind natürlich sehr emotional. Einerseits kommen Ängste auf. Die häufigsten sind: die Angehörigen nicht mehr zu erkennen, den Job zu verlieren, stigmatisiert zu werden und die Finanzen nicht mehr im Griff zu haben. In den Sprechstunden nehme ich mir viel Zeit, um auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen einzugehen und Lösungen anzubieten.

Andererseits hatten viele Betroffene bereits einen Verdacht. Die Diagnose behebt diese Unsicherheit und ermöglicht ihnen, die Zukunft zu planen. Zur Sicherstellung eines selbstbestimmten Lebens gehört die Errichtung eines Vorsorgeauftrages und einer Patientenverfügung.

In der Gesellschaft gilt Demenz oft als Synonym für Urteilsunfähigkeit. Eine amtliche Beistandschaft wird schnell auch im frühen Stadium errichtet. Wie beurteilen Sie dies aus medizinischer Sicht?

Die Urteilsunfähigkeit bezieht sich immer auf eine Handlung und muss deshalb von Fall zu Fall untersucht werden.

 Die Erfahrung zeigt, dass Demenzerkrankte, auch im fortgeschrittenen Stadium, in der Regel klar und einfach formulierte Zusammenhänge noch verstehen und beurteilen können. Zudem bietet das 2013 eingeführte Erwachsenenschutzrecht gute Alternativen zu einer Beistandschaft an.

Die Büro-Spitex leistet in diesem Bereich hervorragende Arbeit. In den meisten Fällen können staatliche Massnahmen verhindert werden. Letztes Jahr habe ich nur vier Fälle an die KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde) melden müssen.

Das Waidspital gilt als Pionier im Bereich der Akutgeriatrie. Welche ambulanten Dienste bieten Sie Personen an, bei welchen ein Verdacht auf Demenz besteht?

Die Memory-Klinik ist spezialisiert auf die Abklärung und Behandlung von Hirnleistungsstörungen. Zusätzlich zur Diagnose übermitteln wir konkrete Lösungen und begleiten die Betroffenen über die Jahre, zusammen mit allen Beteiligten – wie den Angehörigen und Hausärzten.

Weiter bieten wir geriatrische Sprechstunden an für Probleme allgemeinerer Natur, im Besonderen Sturzabklärungen. In der Akutgeriatrie des Waidspitals behandeln wir etwa 400 neue ambulante und 1000 stationäre Patientinnen und Patienten pro Jahr (bei insgesamt 1000 ärztlichen und zusätzlich über 70 neuropsychologischen Konsultationen). 

Quelle Youtube