Nicht in der Parallelwelt, sondern mittendrin - demenzjournal.com

Demenzfreundliche Gesellschaft

Nicht in der Parallelwelt, sondern mittendrin

Oft sind Menschen mit Demenz von der Welt der Gesunden ausgeschlossen. Daniel Kellenberger

Demenzfreundliche Gesellschaft: Dieser Begriff facht einen neuen Diskurs um den richtigen Umgang mit Demenz an. Schafft das Label ein besseres Leben für Menschen mit Demenz mitten unter uns?

Eine neue Gruppe von Menschen mit Schutz- und Unterstützungsbedarf und deren Umfeld rückt in den Blick der europäischen Länder. Angesichts wachsender Ausgaben – in Deutschland leben rund 1,6 Millionen Menschen mit Demenz, in der Schweiz 119.000 – beauftragte der Europarat 2011 die Nationalstaaten, eigene Nationale Demenzstrategien zu entwickeln und umzusetzen. Gesellschafts-, versorgungs- und steuerungspolitische Hürden müssen nun gemeistert werden. 

Stefanie Becker, Direktorin von Alzheimer Schweiz: «Wir sprechen ganz selbstverständlich von der Bedeutung einer familien-, kinder- und behindertenfreundlichen Gesellschaft. Menschen mit Demenz und deren Bedürfnisse werden jedoch kaum ernst genommen.»

Was aber ist eine Demenzfreundliche Kommune oder Gemeinde? Anders als die biomedizinisch geprägte Auffassung ist der Begriff hier dem erweiterten, schottischen Demenzverständnis entlehnt. Es skizziert ein Gemeinwesen, in dem jeder, mit und ohne Demenz, soziale Bürgerrechte geniesst.

Der Verein Aktion Demenz greift das Konzept 2009 mit einer bundesweiten Kampagne Demenzfreundliche Kommune auf. Damit leitet er einen alternativen Diskurs in Deutschland ein für ein offenes, tolerantes, unterstützendes und damit demenzfreundliches Gemeinwesen. Dazu gehören:

  • anstelle der Aufreihung spezieller Angeboten und Institutionen, einen ermöglichenden und tolerierenden Rahmen zu schaffen (Neue Qualität), damit sich Menschen mit und ohne Demenz im öffentlichen Raum begegnen können.
  • das rein auf Krankheit abzielende Verständnis der Demenz zu hinterfragen und die Bedeutung sozialer Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen: Auch ein Leben mit Demenz kann hohe Lebensqualität haben (Entstigmatisierung). 
  • Netze der Freundschaft kommunal zu fördern, das heisst Ko-Produktionen von Betreuung und Pflege in geteilter Verantwortung (Profession, Angehörigenpflege, Ehrenamt). 

Laut Alzheimer Schweiz verfolgen Demenzfreundliche Gemeinden drei Ziele: Enttabuisierung, Aufklärung und Inklusion. Erreicht wird dies durch:

  • Erhalt der Selbstständigkeit, Selbstbestimmtheit und Lebensqualität von Menschen mit Demenz durch passgenaue Projekte im direkten Austausch mit den Betroffenen.
  • Stärkung gesellschaftlicher Aufklärung durch leicht zugängliche Information.
  • Gestaltung des öffentlichen Raumes für eine gelingende Fortführung des gewohnten Alltags.

«Für Betroffenen und deren Angehörige ist es nicht selbstverständlich, einen normalen Alltag zu führen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.»

Stefanie Becker

In der Schweiz wurde 2013 offiziell eine Nationale Demenzstrategie (NDS) bis 2019 verabschiedet. Verantwortlich sind das Bundesamt für Gesundheit, die Kantone, vertreten durch die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren, sowie Projektbeteiligte, wie Leistungserbringer, Fachverbände und andere. Damit möchte man die Versorgung neu akzentuieren, Akteuren eine bessere Orientierung und Legitimation geben. Allgemeine Schwerpunkte sind  :

  • Erhöhung von Sensibilität, Partizipation und Kompetenz der Bevölkerung,
  • Bereitstellung und Finanzierung bedarfsgerechter Angebote,
  • Sicherstellung professioneller Leistungen
  • Informationsaustausch von Forschung und Praxis.

Das Stigma beseitigen

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Konkret sieht dies in einzelnen Kantonen so aus:

  • Begleitung von Menschen mit Demenz und deren Angehörigen von Anfang an: Im Aargau wurde die Zugehende Beratung lanciert. Eine Konsultativkommission befasst sich in Waadt – es hat ein eigenes Alzheimer-Programm – um die Belange von Angehörigen hinsichtlich Psychotherapie, Selbsthilfegruppen und Erweiterung von Entlastungsangeboten.
  • Bedarfsorientierte Gestaltung und Bündelung medizinischer Versorgung: Ein professionelles Case-Management stellt vielerorts eine bessere Koordination von Leistungen her: von der Früherkennung bis zur mobilen, alterspsychiatrischen, interdisziplinären Betreuung und Pflege zu Hause. Überall in der Schweiz entstehen Kompetenz-Zentren (Memory-Kliniken). Diagnostik, Personalschulung, die Bereitstellung mobiler Teams, Forschung und Evaluation – alles unter einem Dach. Memory-Zentren und psychiatrische Liaisondienste für Alten- und Pflegeheime finden sich zum Beispiel im Kanton Waadt.

Deutschland entwickelt seit Gründung der Allianz für Menschen mit Demenz 2012 eine NDS. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und das Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) haben dazu ein Patchwork aus Förderprogrammen zur Verbesserung wohnortnaher Versorgungsstrukturen eingeleitet. Zu diesen zählen:

Mit der Förderung lokaler Demenznetzwerke, Forschungsverbünde und Angehörigeninitiativen will die deutsche Bundesregierung verallgemeinernde Aussagen über eine gute Praxis niedrigschwelliger Angebote gewinnen. Ein Ergebnis ist das neue Pflegestärkungsgesetz III, welches seit diesem Jahr das Initiativrecht von Kommunen stärkt. Denn Erfolge von Initiativen stützen sich insbesondere auf

  • kommunale Federführung
  • vielfältige Finanzierungsquellen
  • langfristige Ausrichtung mit entsprechender Personalausstattung und
  • breite Zusammensetzung der Akteure.

Doch starke Wettbewerbsanreize und punktuelle Förderung von Modellprojekten schaffen lediglich Inseln gelungener Versorgung. Eine interdisziplinäre und Sektor übergreifende Versorgung bleibt erschwert. Kommunale Mitverantwortung ist gefragt, wird aber nicht überall erkannt. Gerade Signale von oben seien aber ausgesprochen wichtig, so Stefanie Becker, Vorstandmitglied des Dachverbandes Alzheimer Europe.

Menschen mit Demenz sollen auch ausserhalb von Heimen in Würde und Sicherheit leben können.Bild Dominique Meienberg

Das Label Demenzfreundliche Gemeinde fordert zu Neuorientierung und Neuorganisation des Gemeinwesens auf.

Dabei genügt es nicht, eine künstliche Parallelwelt oder Oasen für Menschen mit Demenz zu schaffen.

Wo sie zuvor auf Zuhause oder spezielle Einrichtungen verwiesen waren, kann sich heutiges Engagement auch in kurzlebigen Events, aktionistischen Insel-Modellen oder dicht verzweigten Diagnose-Tempeln erschöpfen (Exklusion durch Sonderbehandlung).

Damit bliebe ein gesamtgesellschaftliches Umdenken bezüglich der umfassenden Teilhabe von Menschen mit Demenz zu kurz gegriffen. Menschen mit Demenz gehören ganz normal überall hin, auch in den öffentlichen Raum, ob im Café, auf dem Markt oder im Bus.