Der wütende Mann

Tagsüber malt Herr R. Mandalas oder raucht. Abends sieht er fern oder raucht. Halbstündlich pendelt er zwischen Arbeitstisch und Balkon, Fernseher und Balkon. Dabei duldet er keine Störungen. Er reagiert mit Wut und Beschimpfungen, wenn jemand oder etwas in die Quere kommt. Zum Beispiel eine Betreuerin, die vor der Balkontüre steht. Dann bricht ein Schwall von wüsten und verletzenden Wörtern aus ihm heraus. In diesen Momenten wirkt Herr R. wie der Bösewicht in einem B-Movie. Ein Mann sieht rot, er steht kurz vor dem Amoklauf – mehrmals täglich.

Illustration Julia Marti

Die ersten Gedanken

Sein Fluchen und die persönlich verletzenden Worte machen Angst und wirken nach. Der Fall macht auch Angst davor, selbst an einer Demenz zu erkranken. Der Mann gehört in eine spezialisierte Einrichtung, wo er anderen Menschen keinen Schaden zufügen kann und beruhigende Medikamente bekommt.

Die zweiten Gedanken

Herr R. braucht Sicherheit und findet sie in Strukturen und Routinen. Die Mandalas geben ihm die Möglichkeit, etwas ungestört zu tun und sich darin zu verlieren. Seine Unsicherheit überspielt er mit Beschimpfungen. Er schützt damit das, was ihm in seiner Krankheit geblieben ist. Auf sedierende Medikamente reagiert er kaum. Als Mensch, der an einer Korsakov-Demenz erkrankt ist, braucht er Wertschätzung. Aber man sollte ihm als starke Person gegenübertreten (Körpersprache beachten). Die Betreuerinnen tauschen ihre Beobachtungen untereinander aus und halten – je nach seinem Zustand – mehr Distanz als zu anderen Bewohnern.

Einen längeren Beitrag zu diesem Fall finden Sie hier: «Ein Mann sieht Rot»


Mit Lippen, Zunge und Zähnen

Frau E. rennt ein paar Schritte auf den Zehenspitzen, hält dann kurz inne und rennt wieder ein paar Schritte. Manchmal drückt sie ihre Lippen auf den Arm einer Bewohnerin, manchmal will sie das Gesicht eines Besuchers lecken. Während der Körperpflege versucht sie ein Kleidungsstück oder den Finger einer Betreuerin zwischen die Zähne zu kriegen. Als die Nachtwache einmal in ihr Zimmer kam, bot sich ihr ein schreckliches Bild: Das Bett und Frau E. waren voller Blut. Fleisch und Haut ihrer Zeigefinger hingen in Fetzen an den Knochen.

Illustration Julia Marti

Die ersten Gedanken

Die Frau gibt uns viele Rätsel auf. Wie ist es möglich, dass sie sich so schwer verletzt? Warum hört sie nicht auf, wenn es weh tut? Und warum leckt oder beisst sie ihre Mitmenschen? In unserer Gesellschaft berührt man sich nur mit den Lippen,wenn man miteinander vertraut ist. Die Frau bewegt sich weit ausserhalb unserer Normen.

Die zweiten Gedanken

Frau E. scheint nur noch die Mittel eines Säuglings in der Oralphase zur Verfügung zu haben. Was ihre anderen Sinnesorgane an Informationen übermitteln, kann sie nicht einordnen. Das macht unsicher und verloren. Sie braucht Schutz vor Reizen, weil sie damit nicht umgehen kann. Ihre Betreuung und Pflege erfordern viel Sensibilität, einen vertrauensvollen Umgang und eine klare Kommunikation. Im Team werden Beobachtungen ausgetauscht: Was macht ihr Angst? Erleichtern basale Stimulation und bestimmte Berührungen die Pflege? Fühlt sie sich im geschützten Rahmen ihres Zimmers wohler? Mag sie sanfte Musik? In welchen Positionen kommt sie nicht in Versuchung zu beissen?

Lesen Sie den Beitrag «Frau E. ist rastlos und verbissen»


Der Mann, der ständig begehrt

Herr G. schaut in Dekolletés, greift Frauen zwischen die Beine und sucht ständig nach möglichen Partnerinnen. Interessiert ist er vor allem an «gut gebauten» Betreuerinnen und Besucherinnen. Er äussert den Wunsch, die Betreuerinnen sollten «oben ohne» arbeiten. Auf Zurückweisungen reagiert er mit Trauer. Bei der Pflege ist Herr G. stets erigiert und versucht sich selbst zu befriedigen. Seit einem Schlaganfall kann er dazu nur noch seine linke Hand benutzen. Darum dauert dieses Prozedere sehr lange und führt höchst selten zum Orgasmus.

Illustration Julia Marti

Die ersten Gedanken

Was soll man sagen, wenn sich ein alter Mann so aufführt? Ist die Sexualität in seinem Leben zu kurz gekommen? Das Herzeigen seines Penis’ und das Schau-Masturbieren sind für seine Begleiterinnen schwer zu ertragen. Der Mann ist wohl in einem Umfeld aufgewachsen, in dem man keinen Respekt hatte vor Frauen. Oder die Demenz hat in seinem Gehirn einen Schalter umgelegt.

Die zweiten Gedanken

Hinter Sexualität in dieser Form steht eine grosse Not. Wenn Herr G. keine Demenz hätte, würde er sich wohl für sein Verhalten schämen. Bei ihm scheint die Erregtheit der Zustand zu sein, in dem er sich lebendig fühlt. Was ihn sonst noch in diesen Zustand bringen kann, scheint er verloren zu haben. Es gilt einen Rahmen zu schaffen, in dem er seine Bedürfnisse ausleben kann, ohne dass seine Betreuerinnen als sexuelle Wesen angegriffen werden. Wenn er während der Körperpflege eine Aufgabe hat (zum Beispiel rasieren oder den Bauch waschen), lenkt ihn das ab. Der regelmässige Besuch einer Berührerin/Sexualassistentin ist hilfreich. Es gilt, Strategien zu entwickeln und sich imTeam gut auszutauschen.

Lesen Sie hier mehr über das Thema: «Der erigierte Charmeur»

Videoglosse «Können Menschen mit Demenz sexuelle Übergriffe machen?»


Der ängstliche Schläger

Herr K. ist ängstlich und kann sich nicht mehr orientieren. Seine schweren kognitiven Defizite und seine Urin- und Stuhl-Inkontinenz führen ihn immer wieder in Situationen, die ihn überfordern. Er sucht die Gesellschaft anderer Menschen, verträgt aber weder Hektik noch Unruhe. Er mag keine einengenden Strukturen. Herr K. braucht sehr viel Begleitung und Pflege. Doch dagegen wehrt er sich mit Schreien, Tritten, Schlägen und Kopfstössen. Mehreren Betreuerinnen hat er schmerzhafte Prellungen und Blutergüsse zugefügt.

Illustration Julia Marti

Die ersten Gedanken

Da kümmert man sich liebevoll um einen alten Mann – und kassiert dafür Schläge. Wenn wir ihn und sein Verhalten vor Augen haben, leuchtet es ein, dass fast die Hälfte der Bevölkerung lieber tot als dement sein will. Und wir verstehen auch, warum in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz Personalnot herrscht. Die Freiheit des einen hört dort auf, wo das Recht des anderen beginnt.

Die zweiten Gedanken

Es gibt wohl keine erniedrigendere Situation, als die Hosen voll zu haben. Herr K. lehnt die Pflege ab, weil sie ihm seine Ohnmacht vor Augen führt. Er ist wütend auf sich selbst. In seiner Verzweiflung richtet sich seine Wut gegen jene, die ihm helfen möchten. Die Betreuenden brauchen eine Strategie, Wissen und Geduld. In Absprache mit den Angehörigen reduzieren sie die Pflege auf ein Minimum und warten den richtigen Zeitpunkt ab. Sehr wichtig sind bei solchen Bewohnern die gute Teamarbeit und der Austausch von Beobachtungen.

Lesen Sie hier «Das junge Kriegsopfer wird alt»


Die Tänzerin auf der falschen Bühne

Nachmittags geht Frau K. tanzen. Sie verabschiedet sich aus der Wohngruppe und geht ins Stadtzentrum. Dort gibt es einen Supermarkt mit CD-Abteilung. Zielsicher steuert Frau K. die Hörstationen an, zieht einen Kopfhörer über und hört Musik aus der Hitparade. Dazu tanzt sie anmutig und ausdrucksstark. Sie geht in die Knie, rudert mit den Armen, dreht sich um die eigene Achse und singt dazu. Manchmal tut sie es über eine Stunde lang und wirkt dabei sehr glücklich. Weil sie attraktiv und erst 56 ist, kommt niemand auf die Idee, dass sie eine Demenz haben könnte. Die Frau hat auch schon an einer Beerdigung für Aufregung gesorgt, weil sie auch dort tanzte.

Illustration Julia Marti

Die ersten Gedanken

Im Vergleich zu den anderen Fallbeispielen wirkt das Verhalten der Frau harmlos. Es ist doch schön, wenn jemand Lebensfreude ins nüchterne Einkaufszentrum bringt. Schwieriger wird es, wenn wir uns in ihre Lage versetzen. Möchten wir in einem Einkaufszentrum oder gar an einer Beerdigung tanzen? Wollen wir uns dem Spott anderer aussetzen? Können wir in die Patientenverfügung schreiben, dass wir lieber eingesperrt als von anderen ausgelacht werden?

Die zweiten Gedanken

Man hat wenig Verständnis für Menschen, die Kranke auslachen. Jedoch überspielen diese Menschen mit dem Lachen ihre Unsicherheit – und erniedrigen zugleich die betroffene Frau K. Hilfreich ist in solchen Fällen die Aufklärung des Umfelds. Es gilt, Nachbarn, Bekannte und Mitarbeitende des Einkaufzentrums zu informieren und sich mit ihnen auszutauschen. So kann Frau K. weiterhin ihrer Leidenschaft nachgehen. Und es sind nicht nur die professionellen Betreuer in der Lage, Frau K. vor Blossstellungen zu schützen.

Lesen Sie hier «Die im Supermarkt tanzt»